Innere und äußere Gespräche

Herkunft ist Schweigen: In Cécile Wajsbrots Roman »Mémorial« reist die Tochter zweier Holocaust-Überlebender nach Polen

  • Fokke Joel
  • Lesedauer: 4 Min.

An einem kalten Wintertag steht eine Frau auf einem Bahnsteig und wartet auf den Zug. Der Zug hat Verspätung und sie beobachtet die anderen Wartenden. »Reisen ist keine einfache Sache«, denkt sie, »jeder versucht, seine Welt mitzunehmen, sein Leben und seine Identität zu bewahren, sich mit einem unsichtbaren Schutz zu umgeben …, um alle Unbilden schadlos zu überstehen und genau so anzukommen, wie man abgereist ist, mithin das Wesen des Reisens zu leugnen.«

Eine Erkenntnis, die mit dem Ort zusammenhängt, in den die Erzählerin aus Cécile Wajsbrots Roman »Mémorial« reist. Sie fährt nach Polen, nach Kielce, woher ihre jüdische Familie stammt, bevor ihre Großeltern mit ihren Eltern in den 1930er Jahren das Land verließen und nach Frankreich emigrierten. Sie fährt zum ersten Mal in die kleine Stadt zwischen Warschau und Krakau; keiner aus der Familie ist je wieder dort gewesen. So wie die Erzählerin niemanden mehr nach der Herkunft ihrer Familie fragen kann. Ihre Mutter lebt nicht mehr und ihr Vater und seine Schwester leiden unter Alzheimer und können sich an nichts erinnern.

Aber ihre Eltern haben sowieso nicht viel erzählt über ihr Leben in Polen. Es gab Geschichten, die oft wiederholt wurden, wie die vom älteren Bruder, der die ganze Hoffnung der Familie gewesen sei und den man tot aus dem Fluss gezogen hatte, der durch Kielce fließt. Und über das Pogrom von 1946, bei dem 42 gerade aus den Konzentrationslagern zurückgekehrte Juden der Stadt ermordet wurden. »Nie redeten sie so viel wie über diese Geschichte, als wäre es die Einzige, die sie wirklich erlebt hatten, aber sie waren gar nicht dabei gewesen, sie hatte sich nur in ihrer Stadt zugetragen, der Stadt, die sie verlassen mussten, und rechtfertigte aus diesem Grund ihre Entscheidung, wegzugehen.«

Cécile Wajsbrots Erzählerin füllt das Schweigen, das ihre Kindheit bestimmte, mit inneren Gesprächen auf. Es sind Gespräche, die nur in ihrem Kopf existieren und auf dem Papier des Buches, mit Gedankenstrichen gekennzeichnet. Auf der einen Seite der Chor der Überlebenden, die sich ihr gegenüber zu rechtfertigen versuchen; auf der anderen die Nachgeborene, die noch eine Generation später unter der Katastrophe leidet, bei der nur der Teil der Familie, der nach Frankreich emigriert war, überlebt hat: »ich trug die Last einer Vergangenheit, die ich nicht selber erlebt hatte, als unfreiwillige Zeugin von Abgründen, die Generationen trennte.«

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Es sind Abgründe, die nicht nur die Kinder der Holocaust-Überlebenden verstehen, sondern auch die Kinder und Enkel der Täter. Wie häufig bestimmte auch hier das Schweigen die Kindheit. Die drei anderen Reisenden im Abteil des Zuges sind Polen. Die Erzählerin kann kein Polnisch, aber eine Frau unter ihnen ist Französischlehrerin. Die Erzählerin fragt sie, wohin sie unterwegs sei. Die Antwort ist wie ein Schock. Auch die Gespräche der anderen beiden Mitreisenden verstummen. »Nach Oswiciem«, sagt sie, »Oswiciem«, der polnische Name von Auschwitz. Die Frau erzählt, wie es ist, in einem Ort aufgewachsen zu sein, der als Ort des Bösen schlechthin gilt. Wie sie versucht hat, die Tatsache des Vernichtungslagers zu ignorieren, was ihr nicht gelang. Dann dachte sie, sie müsste aus Oswiciem weggehen, aber auch das funktionierte nicht. Sie sei zurückgekehrt und würde in der Schule vor jeder neuen Klasse das Problem der Stadt thematisieren.

Die Macht der Herkunft, des Ursprungs. Der Versuch ihn zu finden und sich gleichzeitig davon zu befreien; zu befreien von den Traumata der Vergangenheit, die über Generationen weitergegeben worden sind. Von der Ambivalenz der Gefühle, die so viele Geflüchtete zu zerreißen droht. Deren Herkunft wie die von Cécile Wajsbrots Erzählerin oft ebenfalls nur aus Schweigen besteht: davon erzählt auf beeindruckende Weise »Mémorial«.

Cécile Wajsbrot: Mémorial. A. d. Franz. v. Holger Fock/Sabine Müller. Wallstein, 171 S., geb., 22 €.

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