Rudolf Bahro: Ein kompromissloser Ketzer

Bürgerkrieg und Romantik im Realsozialismus – Thomas Schubert studierte das Frühwerk von Rudolf Bahro

  • Alexander Amberger
  • Lesedauer: 6 Min.
Er konnte auch ein aufmerksamer Zuhörer sein, der Häretiker und Ketzer Rudolf Bahro.
Er konnte auch ein aufmerksamer Zuhörer sein, der Häretiker und Ketzer Rudolf Bahro.

Kurz vor seinem Tod hat Rudolf Bahro 1995 einen letzten größeren Text verfasst: Das »Buch von der Befreiung aus dem Untergang der DDR«, adressiert an Sahra Wagenknecht. Sie war das junge, radikale Gesicht der Kommunistischen Plattform in der PDS. Bahro sah sie als Hoffnungsträgerin, die einen Ausweg aus der Industriegesellschaft weisen sollte. Sie war aber nicht die erste Leitfigur, die Bahro sich auserwählt hatte. Ob Lenin, Stalin, Mao, Beethoven, Bhagwan oder Wagenknecht: Er hatte ein Faible für messianische Hoffnungsträger – die seinen Erwartungen nicht immer gerecht geworden sind.

Sein Buch »Die Alternative« hatte den unscheinbaren SED-Funktionär 1977 weltberühmt gemacht. Doch wo kam Bahro her, wie wurde er politisch sozialisiert? Thomas Schubert, der in den 90er Jahren bei Bahro studierte, schließt diese Forschungslücke nun mit seiner Dissertation. Er hat dazu sämtliche veröffentlichten Texte ausgewertet, mit Zeitzeugen gesprochen und Archive durchforstet.

Bahro wurde nach Kriegsende auf der Flucht aus Niederschlesien von seiner Mutter und den beiden Geschwistern getrennt. Diese starben kurz darauf, während Rudolf überlebte. Nachdem er seinen Vater wiedergefunden hatte, wuchs Bahro im Oderbruch auf. Bisher ging man davon aus, dass er schon hier dem DDR-Sozialismus treu ergeben war. Doch Schubert nennt ein neues Detail: So hat der Schüler Bahro antipolnische und antistalinistische Polemiken und Pamphlete verfasst. Erst nach einer Vorladung zum Schuldirektor 1952 habe er damit aufgehört. Dankbar für die Bekehrung und die Nichtbestrafung habe er sich fortan mit Übereifer in der FDJ und der SED engagiert. Überliefert ist ein Gedicht, eine 16-seitige Hymne auf Lenin und die Oktoberrevolution, die Bahro wohl als Abiturient vor versammelter Aula rezitierte. Er war ein fleißiger Lyriker, der sogar kleine Erfolge erzielen konnte. Eines seiner Gedichte schaffte es in »Sinn und Form«, andere finden sich in einem Gedichtband, erschienen 1960 in der Reihe »Antwortet uns!«.

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Der junge Bahro war ein großer Eiferer, ein Agitator, der in Stalin eine götzengleiche Bezugsperson, in Lenin eine Art Messias und im Marxismus-Leninismus die Erlösungslehre gesehen habe. Schubert erkennt in ihm den Typus eines gläubigen Theologen. Der Kirchencharakter der leninistischen Partei, ihre Rituale, ihr Anspruch auf Unfehlbarkeit sowie die Widersprüche, die sich daraus ergeben haben, sind für ihn Elemente einer solchen ersatzreligiösen Weltanschauung. Bahro selbst sah dies im Übrigen auch so. In der »Alternative« bezeichnet er sich als Häretiker, als Ketzer in der Tradition kirchlicher Reformatoren vergangener Jahrhunderte, die dem verkommenen Klerus die Originalschriften entgegenhielten.

Bahro begann Mitte der 50er Jahre ein Philosophiestudium in Berlin. In seine Studienzeit fiel der XX. Parteitag der KPdSU und die tränenreiche Erkenntnis, dass Stalin ein Verbrecher war. Gegen die Niederschlagung der Aufstände in Ungarn und Polen 1956 protestierte er an einer Wandzeitung und kam straffrei davon. Andererseits schwieg er, wenn Kommilitonen aus politischen Gründen bestraft wurden und blieb einem idealisierten Leninismus treu ergeben. In Bahros Diplomarbeit über Johannes R. Becher wird dessen Werk an die Parteigeschichte angepasst. »Letztlich diplomierte Bahro in den Fächern Gesinnungswissenschaft und Propagandistik«, so Schubert. Frisch von der Universität kommend ging Bahro als SED-Agitator ins Oderbruch – und scheiterte krachend. Die Bauern hatten nicht auf einen Grünschnabel aus Berlin gewartet. Er verließ das Dorf und zog über Berlin nach Greifswald, wo er für die Universitätszeitung arbeitete. Zwei Jahre später ging er abermals nach Berlin, zur Gewerkschaft Wissenschaft. Für Bahro waren all diese Stationen eher notwendige Parteiarbeit als erfüllter Lebenstraum.

Im Sommer 1963 verabschiedete die SED ein Jugendkommunique. Es sollte die junge Generation für den Aufbau des Sozialismus motivieren. Zugleich wollten ihr die Altvorderen mehr Vertrauen entgegenbringen. Das hätte weniger ideologische und kleinbürgerliche Gängelei bedeutet. Bahro nahm es für bare Münze. In der Realität war der Impuls aus der Jugend aber nur erwünscht, wenn er systemkonform war. Seine Enttäuschung war vorprogrammiert. Angeregt durch Fritz Behrens Überlegungen zum »Subjektivismus«, durch die Intentionen des Jugendkommuniques, durch Maos Kulturrevolution, sah er die SED bald als Gebilde aus zwei Generationen: Einerseits die konservativen Alten an der Macht, die am Status quo festhalten wollten, und andererseits die idealistische Jugend, die nach Kommunismus strebte.

Ein Grundwiderspruch des Realsozialismus war die entstandene soziale Schichtung mit einer neuen Elite. Dies widersprach der Ideologie einer klassenlosen Gesellschaft. Entweder musste also die Ideologie angepasst oder die Gesellschaft reformiert werden. Mitte der 60er Jahre begann vor diesem Hintergrund langsam Bahros Abkehr. Zu dieser Zeit hatte er eine Anstellung als Redakteur bei der Studentenzeitung »Forum«. Hier konnte er sich intellektuell einbringen, hatte gewisse Freiräume, aber auch Grenzen, die er auszuloten versuchte. 1966 überspannte er den Bogen und wurde nach der Veröffentlichung eines kritischen Volker-Braun-Stückes entlassen. Schubert hat ein unveröffentlichtes Textprotokoll aus diesem Jahr gefunden. Bahro interviewte drei Tage lang den Kulturfunktionär Alfred Kurella. Dabei ging es um Fragen des Stalinismus. Kurella berichtete als Zeitzeuge vom Großen Terror unter Stalin, dem auch sein Bruder zum Opfer fiel. Für Bahro war das Gespräch desillusionierend. Es erschien im »Forum« erst nach dessen Entlassung, stark redigiert und ohne Nennung des Autors. Derweil war dieser bereits in ein Gummi-Kombinat strafversetzt worden, wo er fortan als soziologischer Mitarbeiter den Arbeitsalltag im Arbeiter-und-Bauern-Staat mit all seinen Widersprüchen zwischen Ideologie und Praxis unmittelbar verfolgen konnte. Nach der Niederschlagung des »Prager Frühlings« begann er aus Rachemotiven mit dem Verfassen der »Alternative«, wollte jedoch nie die DDR als Staat überwinden. Das westliche System war ihm zuwider. Die DDR sollte zurück zu den marxistischen Wurzeln reformiert werden.

Bahros Essay zu Beethoven lässt dies erkennen. Der Text besteht aus zwei Teilen, der erste entstand vor den Ereignissen in Prag, der zweite danach. Teil eins erschien sogar auf Russisch in der Sowjetunion, vermittelt durch Michail Lifschitz. Bahro wollte ursprünglich aus diesem Thema eine Dissertation machen, konnte das Vorhaben aber nicht realisieren. Schubert analysiert »Das Beispiel Beethoven« im Gesamtdiskurs um das Romantikverständnis in der DDR. Folgte die Arbeit über Becher noch dem anti-romantischen Impetus von Georg Lukács, so spiegelt das »Beispiel Beethoven« Bahros Enttäuschung wider, der er nun mittels revolutionärer Romantik begegnete.

Schubert kommt zu dem Schluss, dass das hier endende Frühwerk als »Schlüssel zum Gesamtwerk« verstanden werden könne. Vieles, was hier angelegt wurde, kam später zur Blüte. Auch wenn sie so manche Länge hat, ist Schuberts Dissertation eine wichtige Arbeit. Sie birgt die Erkenntnis, dass der junge Bahro schon gut vernetzt war mit verschiedenen Größen aus Politik, Kultur und Literatur. Die meisten von ihnen wagten zwar kleinere Tabubrüche, nicht aber die große Machtprobe. Bahro sah hingegen nur im Ketzertum einen Ausweg, angetrieben vom »Prinzip Hoffnung« seines Idols Ernst Bloch.

Thomas Schubert: Bürgerkrieg und Romantik im Realsozialismus. Zum Frühwerk Rudolf Bahros (1952–1970). Eine Weltanschauungsanalyse. Nomos, 1036 S., geb., 169 €.

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