Können wir wirklich frei sein?

Mit »Europas Hunde« spielt der belarussische Schriftsteller Alhierd Bacharevič das große Spiel der Literatur

  • Ingo Petz
  • Lesedauer: 5 Min.

Wer es noch nicht wusste: Nils Holgersson ist ein Punk. Die beengte Umgebung seiner ländlichen Welt hat ihn zu einem unwirschen, wütenden Jungen werden lassen. Er muss erst ganz klein werden, auf dem Rücken der Gänse die Güte und Gunst von Welt und Freiheit erkennen. Er muss ausbrechen – mit den Konventionen der realen Welt brechen –, um seinen Weg zu finden. Der Punk Holgersson ist dabei der Transmitter für die Poesie, der in jedem zum Leben erwacht, der von ihr berührt wird.

Man darf annehmen, dass auch Alhierd Bacharevič von dieser magischen Poesie berührt wurde und so zum Punk wurde. »Einen Akt der Freiheit«, so bezeichnete Bacharevič das Schreiben an seinem Buch »Europas Hunde« bei der Präsentation in Berlin, in der eben die bekannte Geschichte von Selma Lagerlöf ein zentrales Scharnier ist. Allerdings nur eines von unzähligen.

Es scheint sogar, als wolle Bacharevič als Vertreter der vermeintlich kleinen belarussischen Literatur den Roman als Literaturgattung von innen her sprengen – mit dem Geist der Freiheit und der Macht der Sprache. Bei seinem Vernichtungs- und Neuerweckungsfeldzug dürfte es ihm möglicherweise um die dicken Romanwelten der sogenannten großen russischen Kultur gehen, wie die eines Tolstoi. Die belarussische Peripherie im Aufstand gegen das russische Imperium.

Der zweite große Teil des Buches erzählt in märchenhaftem Stil von einem Belarus, das im Jahr 2049 Teil eines totalitären russischen Großreiches geworden ist. Aber Bacharevič ist ein bewusst linkischer Erzähler, der sich nicht allein auf so etwas wie das in seiner Heimat gepflegte Nationalnarrativ festnageln lassen würde. Vielmehr treibt er seinen Schabernack mit den Mythen und Zeichen der belarussischen Nationalkultur, was vor allem im dritten Teil des Buches deutlich wird.

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Deutlichkeit ist allerdings keine Kategorie, mit der man an die Lektüre, besser an die Erkundung dieses literarischen Rätsels à la Joyce herangehen sollte. Eine durchgehende Handlung existiert nicht. Die sechs wesentlichen Teile des Buches sind nur lose miteinander verknüpft. Dazwischen stehen längere Poeme. Thomas Weiler hat den Mammutakt der Übersetzung dieses irren und Grenzen einreißenden Buches auf sich genommen. Dass ihm dafür ein großer Preis gebührt, dürfte bei aller Rätselhaftigkeit unstrittig sein.

Bacharevič jongliert seine irrlichternden Figuren und Wesen wie ein Artist durch Raum und Zeit, ohne sie Bestimmungen zuzuführen. Mal schweben sie suchend, dann fallen sie wieder ungebremst ins Bodenlose. Er lässt sie graben und buddeln, in den großen Themen der Menschheit. Das Ganze ist angelegt irgendwo zwischen dem Jahr 2017, als das Buch in Belarus entstand, und einer dystopischen Zukunft, in der in Europa kaum noch Bücher und Literatur gelesen werden. Ein Europa, in dem der Tod des letzten belarussischen Dichters einen Agenten in Deutschland zurück in ein Belarus bringt, das vom russischen Imperium geschluckt wurde.

Den Auftakt macht die Geschichte eines gewissen Oleg Olegowitsch, der eine eigene Sprache erfindet, die er Balbuta nennt. Er will eine Sprache der totalen Freiheit erschaffen. Eine Sprache, die keinen kulturhistorischen Ballast trägt und dem Sprecher damit seine Identität aufzwingt, wie es das Russische oder Belarussische tun. Der Kulturkampf um beide Sprachen ist in Belarus seit Jahrhunderten bestimmender Teil der Identitätssuche. Ein Grund, warum dieses monströse Buch nach seinem Erscheinen zu einer Art Kultbuch in Belarus wurde. In einer Region, in der das Dazwischensein zwischen Kulturen und Identitäten zur existenziellen Selbstbestimmung geworden ist.

Auch davon handelt dieses Buch auf unterschiedlichen Ebenen, von der Suche nach dem Eigenen. Bu samoje – sei eigen, sei frei, sei eigenwillig –, heißt es auf Balbuta. Kann man sich aber von all dem metaphysischen Ballast einer Sprache befreien? Kann eine Sprache frei vom Menschen sein? Oleg Olegowitsch ist naiv genug, das zu glauben, wird aber schon bald eines Besseren belehrt.

Dem Buch ist ein Bändchen beigelegt, mit dem man Balbuta lernen kann, sogar muss. Denn ganze Teile des Buches hat Bacharevič in Balbuta verfasst. Die Herausforderung, die er an den Leser stellt, ist also ebenfalls monströs. Er bricht – wie es sich für einen Punk gehört – mit allen Konventionen. Seine Erzählwut und Sprachgewalt bringen reihenweise Gedanken und Episoden zum Leuchten.

Für Geschichten interessiert sich Bacharevič allerdings nicht. Er täuscht Geschichten an, schickt den Leser in eine bestimmte Richtung, um ihn dann schwindelig zu erzählen, seine Orientierung zu stören. Es braucht Widerstandswillen und Wachheit, sich dem zu entziehen, lebendig zu bleiben, um Aufmerksamkeit und Geduld hochzuhalten, damit selbst das kleinste Fünkchen Freiheit eine Chance bekommt. Auch das gehört zu diesem Spiel.

Bei aller Radikalität in der Form, bei aller postmodernen Ironie, mit der Bacharevič als Erzähler Gott und Teufel spielt, ist es aber gerade die Besessenheit von Sprache und Literatur die »Europas Hunde« merkwürdig altmodisch erscheinen lässt. Können wir Nils Holgersson sein? Können wir wirklich frei sein?

Auf die heutigen Machthaber in Belarus jedenfalls wirkte so viel flirrender Freigeist anscheinend sehr bedrohlich, sodass das Buch für »extremistisch« erklärt und damit verboten wurde. Literatur als Gefahr für die Mächtigen. Wunderbar. Lasst sie los, die Hunde!

Alhierd Bacharevič: Europas Hunde. A. d. Belaruss. v. Thomas Weiler. Voland & Quist, 744 S., geb., 36 €.

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