Bis an den Rand der Welt

Immer weiter gehen oder auch kriechen: Alain Damasios Roman »Die Horde im Gegenwind« ist ebenso Fantasy wie philosophische Theorie

  • Florian Schmid
  • Lesedauer: 4 Min.

Die 23 Frauen und Männer in Alain Damasios Roman »Die Horde im Gegenwind« kämpfen in verschiedenen Formationen gegen brutale Luftströmungen an, arbeiten sich immer weiter voran, suchen auch mal Unterschlupf und kriechen zur Not auf allen vieren weiter in Richtung eines mythischen Ortes namens Fernstromauf.

Es geht durch verlassene Ortschaften, flaches Land, durch Sumpfgebiete, ins vereiste Gebirge und durch Städte, wo nicht selten um politische Machtverhältnisse gekämpft werden muss. Aber der Wind hört in dieser präindustriellen, Steampunk-artigen Fantasywelt nie auf zu wehen. »Die gesamte Horde ist in diesem Moment gegen die Westseite eines Bauwerks gepresst (…) wir warten auf den Rückstrom, auf die kurze Pause in der Beschleunigung, die es uns erlauben wird, im Kontergang in das Straßenlabyrinth einzutauchen.«

Die titelgebende Horde ist über Jahrzehnte hinweg unterwegs, um zum Ursprung dieser Winde zu gelangen. Alain Damasio entwirft in seinem 2004 im französischen Original erschienenen Roman ein einzigartiges Erzähluniversum, in der die 34. Horde mehr als 30 Jahre lang gegen den Wind ankämpft und bis an den Rand der bekannten Welt vordringt.

In Frankreich verkaufte sich der gut 700-seitige außergewöhnliche Fantasy-Roman in den vergangenen 20 Jahren fast eine halbe Million Mal. Darüber hinaus erschien eine dreiteilige, auch ins Deutsche übersetzte Comic-Adaption; es gibt ein Rollenspiel und zwei von Fans entwickelte Computerspiele. Teile des Buches waren schon als szenische Bühnenfassung zu sehen, und es wurde unter Mitwirkung von Alain Damasio an einem Animationsfilm gearbeitet, der aber über die Entwicklungsphase nie hinauskam. In Deutschland ist bisher nur Alain Damasios dritter Roman »Die Flüchtigen«, ein bewegungspolitischer Science-Fiction-Thriller über eine zukünftige Kontrollgesellschaft erschienen, wurde von der Kritik aber eher stiefmütterlich behandelt.

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Für den 1969 geborenen Damasio, der auf eine Pariser Eliteuni ging, sie vorzeitig abbrach und statt gutbürgerliche Karriere zu machen, lieber fantastische Prosa zu schreiben begann, ist dieses Genre ein überaus politisch. Seine Prosa ist weniger von der Lektüre anderer Science-Fiction oder Fantasy als vielmehr von den philosophischen Arbeiten, vor allem von Gilles Deleuze, Felix Guattari und Michel Foucault, aber auch von Nietzsche, beeinflusst.

In »1000 Plateaus« schrieben Deleuze/Guattari 1980: »Wir sprechen nur noch von Mannigfaltigkeiten, Linien, Schichten und Segmentaritäten, von Fluchtlinien und Intensitäten, von maschinellen Gefügen und ihren verschiedenen Typen, von organlosen Körpern und ihrem Aufbau, ihrer Selektion, von der Konsistenzebene und den jeweiligen Maßeinheiten.« Damasios »Horde im Gegenwind« mutet fast wie eine literarische Umsetzung dieses linksradikalen Theorie-Ziegelsteins an.

Die Figuren in dem Roman sind in einem fort mit Strömungslinien des Windes in unterschiedlicher Ausprägung konfrontiert. Der ganze Raum um sie herum ist ein wichtiger Protagonist des Romans. Die Männer und Frauen der Horde werden langsam Teil der sie umgebenden »gekerbten und glatten Landschaft« (wie das bei Deleuze/Guattari heißt), in die sie immer weiter eindringen und die auch in sie eindringt.

Drei Mitgliedern der Horde ist eine Landkarte der »Bellini-Achse« auf dem Rücken eintätowiert, auf der sie entlangziehen, um über die Grenzen der bekannten Welt hinauszugelangen und den Ursprung des nie abreißenden, sich aber ständig verändernden Windes zu finden. Das ist keine religiös motivierte Suche, auch kein wissenschaftliches Unterfangen, sondern eine seit Jahrhunderten eingeschliffene Tradition, die eher Züge eines Handwerks trägt, in dem jeder eine feste Rolle innehat.

Jedes der 23 Horden-Mitglieder hat eine eigene Stimme und wird mit einem eigenen Symbol im fortlaufenden Text markiert. Da ist der massige und vor sich hin schimpfende Spurter Golgoth, der mit seinem aerodynamischen Helm vorneweg läuft. Der intellektuelle Sov, der Schreiber, führt ein »Konter-Tagebuch«, Oroshi ist die Aeromeisterin, die Winde lesen kann, Caracole ist eine Art Troubadour, der im Verlauf des Romans einen Dichterwettstreit zu bestehen hat, in dem es für die Horde um alles geht, Callirhöe ist als Zündmeisterin für das Feuer zuständig.

Auch wenn sich dieses Personal-Tableau wie die Anleitung eines Fantasy-Rollenspieles liest, geht der multiperspektivische Roman weit über eine reine Genre-Erzählung hinaus. Es ist ein Epos, dessen Seitenzahlen rückwärts laufen, das eher nach Shakespeare und dann auch wieder über weite Strecken mehr wie ein philosophischer Theorietext und nicht wie massenkompatible Fantasy klingt.

Die Horde trifft auch auf andere Menschen, etwa die Freolen mit ihrem Feingeschwader, das in einem riesigen Schiff mit Propellern auf dem Wind dahinfliegt. Je weiter sie in ihrem jahrzehntelangen Marsch vorankommen, desto mehr gehen ihre einzelnen Mitglieder regelrecht in der sie umgebenden Landschaft auf. Dabei begegnen sie auch eigenartigen Wesen oder Gebilden, etwa Medusen, die am Himmel schweben und ihre Umgebung umformen.

Je weiter sich die Horde in Richtung Fernstromauf bewegt, desto bizarrer wird ihre Umgebung, umso gefährlicher und tödlicher wird die Reise. Und ganz am Ende wartet dieses bis zur letzten Seite spannende, stellenweise aber auch langatmige Epos mit einem knappen, verblüffenden und ironischen Schlussakkord auf.

Alain Damasio: Die Horde im Gegenwind.
A. d. Franz. v. Milena Adam. Matthes und Seitz, 740 S., geb., 38 €.

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