Meinung als Selbstverteidigung

Olivier David über Meinungsbildung von armutsbetroffenen Menschen

Vor zwei Wochen war ich für ein paar Tage bei meinem Vater in Frankreich zu Besuch. Er bezieht Sozialhilfe. Nun hat er zu allem Übel irgendwelche Anträge nicht ausgefüllt, und das Amt hat ihm seit Januar kein Geld ausgezahlt. Ein gewaltvoller Akt, wenngleich ein normaler Umgang in einer liberalen Demokratie und damit auch nicht weit entfernt von der Praxis, wie in Deutschland mit Erwerbslosen umgesprungen wird.

Als ich bei ihm zu Besuch war, ist mir ein bestimmter Mechanismus ins Auge gesprungen: Wenn ich ihn von mir aus auf seine Situation angesprochen habe, hat er abgewiegelt, mal mit einem Lächeln, aber immer sehr bestimmt. »Alles kein Problem«, »ach die paar Tage«, er habe schon Schlimmeres erlebt, so in der Art. Und dann gab es noch diese drei oder vier Momente, in denen er mir unverblümt zu verstehen gegeben hat, wie sehr ihn die Armut zu schaffen macht. Wie geht das zusammen?

Das väterliche Zurückweisen meiner Meinung erfüllt eine Schutzfunktion. Es ist der Versuch, die Deutungshoheit zu behalten, da wo sie ihm schon lange genommen wurde. Ich kenne es von mir, und ich würde hier nicht darüber schreiben, wenn ich es nicht auch für ein allgemeingültiges Phänomen von Menschen halte, die konsequent und mit Absicht benachteiligt werden.

Olivier David

Olivier David ist Autor und Journalist. 2022 erschien von ihm »Keine Aufstiegsgeschichte«, in dem er autobiografisch den Zusammenhang von Armut und psychischen Erkrankungen beschreibt. Bevor er mit 30 den Quereinstieg in den Journalismus schaffte, arbeitete er im Supermarkt und Lager, als Kellner und Schauspieler. 2024 erscheint sein Essayband »Von der namenlosen Menge« im Haymon Verlag. Für »nd« schreibt er in der 14-täglichen Kolumne »Klassentreffen« über die untere Klasse und ihre Gegner*innen. Alle Texte auf dasnd.de/klassentreffen.

Man braucht nur das Feld zu wechseln, um diesen Mechanismus nachzuvollziehen: Beim Thema Verschwörungserzählungen ist schon länger bekannt, dass die Bereitschaft, an diese Art von Erzählungen zu glauben, in der Armutsklasse weitaus höher ist als im Rest der Bevölkerung. Dafür gibt es eine Vielzahl an Gründen. Der gewichtigste ist dabei der, dass Menschen, die nicht von Systemen profitieren – oder anders gesagt: die unter Systemen leiden – ihnen ihre Legitimität nehmen, in dem sie aufhören, an sie zu glauben.

Man kennt dasselbe Phänomen bei der Wahlbeteiligung, aus der klar wird, dass die Personengruppen, die am meisten profitieren, auch zur Wahl gehen, während den Entrechteten, wie es in Pierre Bourdieus »Die feinen Unterschiede« heißt, »zur Wiederherstellung ihrer persönlichen und sozialen Integrität kein anderer Ausweg bleibt, als jenen Verdikten ihre globale Verweigerung entgegenzusetzen«.

Es ist eine Doppelbewegung: Auf der einen Seite wird der Common Sense nicht geteilt, auf der anderen Seite werden den Mehrheitsmeinungen eigene Ansichten entgegengesetzt. Dabei geht es weniger um die Richtigkeit der eigenen Meinung als darum, überhaupt eine andere zu haben, um sich von denjenigen zu unterscheiden, von denen man unterdrückt wird. Bei meinem Vater sieht das so aus: Der französische Staat habe die Kathedrale Notre-Dame in Paris 2019 selbst in Brand gesetzt. Ziel sei es gewesen, die Gelbwestenbewegung zu zerschlagen.

Und ich? Anfang der 2000er Jahre glaubte ich wie weite Teile meines Milieus, dass der Terroranschlag auf die World Trade Center in New York eine False-Flag-Aktion der US-Amerikaner gewesen sei, damit sie danach den Irakkrieg starten konnten. Meinung, das war etwas, was mich damals vor dem Zugriff der Herrschenden beschützen sollte, unter deren Gewalt ich litt.

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