Was bedeutet das für die Juden?

Warum alles etwas zu bedeuten hat, sogar, wenn etwas explizit nichts bedeutet.

Alles Auslegungssache? Ein Tora-Fragment; Lesen und Verstehen sind eine Heidenarbeit.
Alles Auslegungssache? Ein Tora-Fragment; Lesen und Verstehen sind eine Heidenarbeit.

Geht es den Juden gut? – Das ist schlecht für die Juden, weil niemand will, dass es ihnen gut geht. Geht es den Juden schlecht? – Das wäre gut für die Juden, wenn es ihnen dann nicht so schlecht ginge.

Beseder, in Ordnung, meinetwegen. Aber ist es in Deutschland immerhin nicht besser als anderswo? Hat man in Deutschland nicht aufgearbeitet? Hat man in Deutschland nicht aufgeräumt? Hat man in Deutschland nicht aufgehört?

»In Deutschland wird der Faschismus bekämpft!«

»Was bedeutet das für die Juden?«

»Das ist gut für die Juden! Es sei denn, sie leben nicht mehr …«

Natürlich ist es in Deutschland besser als anderswo. Nur dass es anderswo auch nicht schlechter ist als in Deutschland.

»In Deutschland wird an der Gedenkkultur gearbeitet!«

»Was bedeutet das für die Juden?«

»Das ist gut für die Juden! Es sei denn, sie leben noch immer …«

Ach, Deutschland! Natürlich ist es in Deutschland besser. In Deutschland ist die Existenz Israels Staatsräson! Obwohl es bei tieferem Nachdenken natürlich seltsamer erscheinen könnte, als es bei oberflächlicher Betrachtung merkwürdig ist: Israel ist der einzige Staat, dessen Existenz in einem anderen Staat eine eigene Räson braucht. Die anderen Staaten existieren einfach.

Aber in Deutschland ist die Existenz Israels nicht nur Staatsräson. Es ist noch viel mehr als das: In Deutschland ist die Existenz Israels sogar Staatsressentiment! Israel wird angegriffen? Das ist schlecht für die Juden. Israel verteidigt sich? Das ist schlecht für die Juden. In Israel gibt es eine rechte Regierung? Das ist schlecht für die Juden. In Israel gibt es Proteste gegen die rechte Regierung? Das ist schlecht für die Juden. In Israel hat sich Ladenverkäufer Tomer in der Mittagspause mit dem linken Zeigefinger am Toches gekratzt? Das ist besonders schlecht für die Juden.

Und besonders schlechter ist das für die Juden in Deutschland. Warum? Weil Tomer sich dort kratzt, wo es in Deutschland alle am meisten juckt, und ich meine nicht etwa am Toches – sondern in Israel.

Ich wünschte, jeder würde sich am eigenen Toches kratzen. Zwar mag es auf den zweiten Blick widersprüchlicher erscheinen, als es auf den ersten Blick paradox ist. Aber wenn sich jeder am eigenen Toches kratzt, juckt einen der fremde Toches umso weniger.

Was bedeutet der Toches eigentlich für die Juden? Etwas muss der Toches ja bedeuten. Denn alles bedeutet etwas, das weiß schon der Talmud und das weiß erst recht die Kabbala und das weiß auch mein Onkel Schimon, selbst wenn er eigentlich mein Oheim Aaron oder meine Tante Riwa ist.

Die Sterne bedeuten etwas und die Kerzen bedeuten etwas, die Berge bedeuten etwas, die Bäche bedeuten etwas, die Pferde bedeuten etwas und die Schnecken bedeuten etwas und die Gräser bedeuten etwas und die Brillengläser bedeuten auch etwas – und erst recht alles, was durch die Brillengläser dringt, bedeutet etwas.

Meistens bedeutet alles etwas anderes, als es ist. Die Zahlen bedeuten Wörter, die Wörter bedeuten Zahlen, das Essen bedeutet Geschichten, Geschichten bedeuten Warnungen, Vergangenheit bedeutet Zukunft, Zukunft bedeutet Sorge.

Alles bedeutet etwas anderes. Und als ob das nicht schon verwirrend genug wäre, bedeutet alles nicht nur etwas anderes, als es ist, sondern auch noch etwas wiederum anderes, je nachdem, wo es ist.

Die Flamme der Kerze über den Buchseiten bedeutet das Licht der Lehre, aber die Flamme in den Buchseiten bedeutet das Ende der Lehre. Die Brillengläser auf der Nase bedeuten Lesen, aber die Brillengläser unter den Füßen bedeuten Laufen. Der Stern auf dem Abendhimmel bedeutet den Schabbes, aber Stern an deiner Tür bedeutet alles andere als Schabbes.

Für uns Juden bedeutet alles etwas, und wenn etwas nichts bedeutet, dann hat das erst recht was zu bedeuten.

Einige Menschen wollen uns weismachen, dass nichts etwas bedeute: Das Gesagte bedeute nicht das Gemeinte, das Gemeinte bedeute nicht das Verstandene. Die Wörter bedeuten nichts, die Zahlen bedeuten nichts, Geschichten sind keine Warnungen, Vergangenheit ist vergangen, Pogrom bedeutet keinen Pogrom. Sie wollen nicht wissen, was die Dinge bedeuten, und sie wollen erst recht nicht wissen, was die Dinge für die Juden bedeuten.

Für uns Juden aber bedeutet alles etwas, das wüsste mein Onkel Schimon selbst dann, wenn es ihn gäbe, und das wüsste sogar meine Schwippschwägerschwagerin, wenn das Wort etwas bedeuten würde.

Ezzes von Estis

Alexander Estis, freischaffender Jude ohne festen Wohnsitz, schreibt in dieser Kolumne so viel Schmonzes, dass Ihnen die Pejes wachsen.

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