NSU-Aufklärung: Die Zivilgesellschaft will nicht enteignet werden

Bundesweit gibt es viele lokale Initiativen zur NSU-Aufarbeitung. Ein Gutachten rät, sie in das künftige Dokumentationszentrum einzubeziehen

  • Hendrik Lasch
  • Lesedauer: 4 Min.
»#NSU« steht an einer Hörstation im zukünftigen Dokumentationszentrum zum NSU-Komplex in Sachsen, das 2025 öffnet.
»#NSU« steht an einer Hörstation im zukünftigen Dokumentationszentrum zum NSU-Komplex in Sachsen, das 2025 öffnet.

Das Banner hing drei Monate lang am Zwickauer Markt. »Wir (alle) sind das Volk«, war darauf zu lesen, auf Deutsch, aber auch in elf weiteren Sprachen von Arabisch über Polnisch bis Türkisch. Das Werk von Hans Haake war eine von mehreren künstlerischen Auseinandersetzungen mit dem Thema NSU in der Stadt, in der das rechte Terrortrio bis 2011 im Untergrund lebte.

Während ein staatlicher Ort der Aufarbeitung des NSU-Komplexes und des Gedenkens an dessen Opfer auch ein knappes Vierteljahrhundert nach dem ersten Mord fehlt, gab es künstlerische Auseinandersetzungen mit dem Thema bundesweit in großer Zahl, ebenso wie Rechercheprojekte oder Initiativen zum Gedenken. Insgesamt 115 Aktivitäten in zehn deutschen Städten sind in einem Gutachten zusammengetragen, das Wissenschaftler um die Kulturanthropologin Sabine Hess von der Universität Göttingen erstellten. Es ist eine von drei Expertisen, die einer im Februar vorgestellten Machbarkeitsstudie der Bundeszentrale für politische Bildung für ein NSU-Dokumentationszentrum zugrunde liegen.

Die Machbarkeitsstudie empfiehlt, das Zentrum als »dezentralen Verbund« zu organisieren. Als einen wesentlichen Grund nennt das Gutachten von Hess, die mehrere Gesprächsrunden mit Opfern und Betroffenen des NSU-Terrors durchgeführt hat, dass diese ein Erinnern und Gedenken an Orten wünschen, »an denen sie gelebt haben und die sie prägten«. Ein zweites wichtiges Motiv sind aber die zahlreichen und vielfältigen Aktivitäten aus der Zivilgesellschaft, die es zwischen Rostock und München, Heilbronn und Chemnitz schon gab und gibt. Dort wurden Gedenktafeln enthüllt und Bäume gepflanzt, es gab Fotoausstellungen und Theaterstücke, Installationen, Stadtrundgänge und Straßenfeste. Den örtlichen Aktivitäten sei es maßgeblich zu verdanken, dass »trotz staatlicher Beschränkungen und zahlreicher Leerstellen und Lücken (...) eine breite, kritische Aufarbeitung und gesellschaftliche Diskussion eingesetzt hat«, heißt es in dem Papier.

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Nicht wenige derjenigen, die sich seit Jahren mit dem NSU, dem Rechtsterrorismus in Deutschland und dem Versagen der staatlichen Institutionen befassen, sehen die jetzt endlich bevorstehende Gründung eines staatlich finanzierten Dokumentationszentrums mit einer gewissen Skepsis. Sie fürchten, dass dieses sich ihre Erkenntnisse und das aktivistische Wissen »einverleiben« könnte, wie in dem Gutachten von Sabine Hess formuliert wird. Ein dort zitierter Aktivist erklärt, seine erste Befürchtung mit Blick auf das Dokumentationszentrum sei gewesen, dass »das Gedenken in den Kommunen und auf lokaler Ebene sozusagen rasiert« werden könne. Die Institutionalisierung und Professionalisierung der Aufarbeitung und Erinnerung laufe demnach Gefahr, »bereits bestehende selbstorganisierte und lokale Aktivitäten und Wissensbestände zu vereinnahmen und zu entpolitisieren«.

Die Machbarkeitsstudie empfiehlt aus diesem Grund, bestehende Initiativen und Projekte einzubinden und über den Verbund des Dokumentationszentrums auch zu finanzieren. So solle auf »Vorbehalte und Misstrauen aus der Zivilgesellschaft« reagiert werden, heißt es. Man wolle »das ganze Land in den Blick nehmen« und das neue Zentrum mit den bestehenden Initiativen und Erinnerungsorten vernetzen, sagte Juliane Seifert, Staatssekretärin im Bundesinnenministerium.

Das Gutachten der Wissenschaftler um Sabine Hess benennt daneben auch wesentliche Leerstellen beim bisherigen Umgang mit dem Thema NSU. Künstlerische Auseinandersetzungen habe es in großer Zahl gegeben; sie hätten eine »zentrale Rolle für die Auseinandersetzung« mit den vielfältigen Aspekten des Themas gehabt. Eine wissenschaftliche Aufarbeitung aber habe bisher »nur in geringem Ausmaß stattgefunden«, heißt es. Auch die langjährige Forderung von Opfern und Betroffenen, das Thema in Schulen zu behandeln und jungen Menschen nahezubringen, die teils erst nach der »Selbstenttarnung« des NSU geboren wurden, ist nicht erfüllt. Es seien »in der Summe nur wenige konkrete Initiativen im Bildungsbereich festzustellen«, heißt es im Gutachten. In Lehrplänen sei das Thema »nicht verankert«, und Lehrmaterialien und Handreichungen für verschiedene Klassenstufen fehlten. Für ein Dokumentationszentrum gibt es also viel zu tun.

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