Wie sozial ist das Grundgesetz?

Solange die Klassengesellschaft für ungleiche Voraussetzungen sorgt, gibt es keine Gleichheit in der Demokratie

  • Georg Fülberth
  • Lesedauer: 6 Min.

Das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland ist aktuell geltendes Recht und zugleich ein historisches Dokument. Letzteres erkennen wir schon an den zahlreichen Änderungen, die es seit 1949 erfahren hat. Sie spiegeln in gewisser Weise die Geschichte der Bundesrepublik. So ist das Grundgesetz Ergebnis einerseits einer historischen Konstellation zum Zeitpunkt seiner Verabschiedung und andererseits des Wandels seitdem.

Umso bedeutsamer ist, dass einige Artikel – oder zumindest ihr Kernbestand – besonders geschützt, weiteren Mutationen also entzogen sind. Artikel 79 Abs. 3 besagt: »Eine Änderung dieses Grundgesetzes, durch welche die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze berührt werden, ist unzulässig.« Selbst mit einer Zweidrittelmehrheit ist das unmöglich.

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Artikel 1 erklärt die Würde des Menschen für unantastbar. In Artikel 20 werden Demokratie und Gewaltenteilung, Rechtsstaatlichkeit und Föderalismus normiert. Sein erster Absatz lautet: »Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat.«

Was bedeutet hier »sozial«?

Darüber, was das genau heißt, fand in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre unter Verfassungsrechtlern eine Auseinandersetzung statt. Die Mehrzahl der Beteiligten erkannte der Sozialstaatsbestimmung nur eine deklaratorische Bedeutung zu. Sie sahen in ihr einen allgemeinen Auftrag an die Verwaltung, Notwendigkeiten der Daseinsvorsorge Rechnung zu tragen. Niemand soll hungern, frieren und obdachlos sein. So gesehen, handelte es sich um eine Selbstverständlichkeit: Schon aus Gründen der Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung und gegebener Herrschafts- und Eigentumsverhältnisse haben alle Staaten, auch vor- und nichtdemokratische, irgendwelche fürsorglichen Maßnahmen ergriffen, und sei es die Errichtung und den Betrieb von Armenhäusern.

Eine andere Auffassung vertrat Wolfgang Abendroth (1906–1985), Verfassungsrechtler und 1951 bis 1972 Professor für wissenschaftliche Politik in Marburg. In einer Kontroverse mit dem Heidelberger Staatsrechtler Ernst Forsthoff legte er seine Position dar. Zentral ist hier ein Artikel »Zum Begriff des demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland« aus dem Jahr 1954. 1966 erschien sein Buch »Das Grundgesetz. Eine Einführung in seine politischen Probleme«, 1967 die umfangreiche Sammlung »Antagonistische Gesellschaft und politische Demokratie. Aufsätze zur politischen Soziologie«.

Gleich und ungleich zugleich

Bereits der Titel des letztgenannten Buchs benennt das von Abendroth angesprochene Problem: das Spannungsverhältnis einerseits von Demokratie, in der alle Bürgerinnen und Bürger gleiche Rechte und Pflichten haben, und anderseits einer Klassengesellschaft, wo Ungleichheit herrscht und ihnen unterschiedliche Ressourcen für die Teilnahme an der politischen Willensbildung zur Verfügung stehen. Unternehmer, Eigentümer großer Vermögen und Bezieher hoher Einkommen haben mehr Einfluss auf politische Entscheidungen als Lohnabhängige und Arme. Sie können zum Beispiel erhebliche Mittel für – durchaus legale – Parteispenden aufbringen. Als Besitzer großer Medien üben sie enormen Einfluss aus. Im Gesetzgebungsverfahren finden Anhörungsverfahren statt, in denen Vertreter organisierter Interessen sich zur Geltung bringen können. Unternehmerverbände mit wenigen Mitgliedern nehmen daran ebenso teil wie die Gewerkschaften mit ihren Millionen von Kolleginnen und Kollegen.

Laut Artikel 3 des Grundgesetzes sind alle Menschen vor dem Gesetz gleich. Niemand darf positiv oder negativ diskriminiert werden. Zur Demokratie gehört das allgemeine, freie und geheime Wahlrecht, das in den Artikeln 28 Abs. 1 und 38 Abs. 1 explizit genannt wird. Jeder und jede hat nur eine Stimme, aber die Chancen, möglichst viele davon für die eigenen Interessen zusammenzubringen, sind höchst unterschiedlich. Und das gilt nur für die formalen Möglichkeiten politischer Durchsetzung, hinzu kommen viele indirekte, die im Einzelnen kaum nachweisbar sind.

Gleichheit vor dem Gesetz bei Ungleichheit in der Gesellschaft bedeutet Einschränkung der Demokratie, die durch Beseitigung dieser Diskrepanz aufgehoben werden muss. Letzten Endes ist damit die Eigentumsfrage berührt. Mit dieser befassen sich zwei Artikel des Grundgesetzes.

»Das Eigentum und das Erbrecht werden gewährleistet.« So steht es in Artikel 14 Abs. 1. Unverkennbar ist, wie schon die Nennung des Erbrechts zeigt, damit das Privateigentum gemeint. Sein Gebrauch solle »zugleich dem Wohle der Allgemeinheit dienen« (Abs. 2), Enteignung sei nur zu diesem Zweck erlaubt. (Abs. 3). Sie hat im Zusammenhang mit diesem Artikel offenbar keine klassenpolitische Umverteilung zum Ziel, sondern erleichtert immer wieder einmal Infrastrukturmaßnahmen. Nehmen wir einmal an, die Öffentliche Hand wolle für Straßen- und Wegebau über Grund und Boden verfügen, deren Privateigentümer seien aber nicht zum Verkauf bereit. Dann können sie gegen Entschädigung enteignet werden.

Ganz anders steht es mit Artikel 15: »Grund und Boden, Naturschätze und Produktionsmittel können zum Zwecke der Vergesellschaftung durch ein Gesetz, das Art und Ausmaß der Entschädigung regelt, in Gemeineigentum oder in andere Formen der Gemeinwirtschaft überführt werden.« Gemeinwirtschaft! Dieser Begriff hatte eine große Bedeutung in gesellschaftspolitischen Überlegungen über eine Neuordnung, die unmittelbar nach 1945 stattfanden. Die Auffassung, dass Krieg und Faschismus durch den Kapitalismus verursacht seien, war damals verbreitet.

In ihrem Ahlener Programm vom 3. Februar 1947 befand die CDU der britischen Besatzungszone: »Das kapitalistische Wirtschaftssystem ist den staatlichen und sozialen Lebensinteressen des deutschen Volkes nicht gerecht geworden. Nach dem furchtbaren politischen, wirtschaftlichen und sozialen Zusammenbruch als Folge einer verbrecherischen Machtpolitik kann nur eine Neuordnung von Grund aus erfolgen.« Artikel 41 der hessischen Landesverfassung von 1946 sah umfassende Enteignungen zu diesem Zweck vor. Ihm hatte auch die CDU zugestimmt. Artikel 15 des Grundgesetzes ist ein Produkt solcher Bestrebungen, die in den ersten beiden Jahren große Zustimmung fanden. 1949 allerdings schon nicht mehr.

Kalter Krieg und Grundgesetz

Zwischen dem 3. Februar 1947 (Ahlen) und dem 23. Mai 1949 (Verabschiedung des Grundgesetzes) lag der 12. März 1947. An diesem Tag rief US-Präsident Harry S. Truman den Kalten Krieg aus. Der war nicht nur eine Konfrontation der politischen Systeme – Freedom and Democracy gegen sogenannten Totalitarismus – sondern auch der Eigentumsordnungen: Kapitalismus gegen Sozialismus. Die CDU ließ Ahlen hinter sich und beschloss am 15. Juli 1949 ihre »Düsseldorfer Leitsätze«, ein marktliberales wirtschafts- und sozialpolitisches Programm.

Das Grundgesetz wurde von einem »Parlamentarischen Rat« in Bonn verabschiedet, der aus Abgeordneten der seit 1946 gewählten Landtage bestand. Diese befanden sich noch unter dem Einfluss der Lehren über den Zusammenhang von Krieg und Faschismus mit dem Kapitalismus. Mit SPD und KPD hatten zwei sozialistische Parteien Rat und Stimme unter den später sogenannten Müttern und Vätern des Grundgesetzes. In der CDU gab es neben Marktliberalen auch einen einflussreichen Gewerkschaftsflügel. Die bis 1933 starke Zentrumspartei war, wenngleich jetzt schwach, vertreten. In ihr wirkte die katholische Soziallehre, die auf die Interessen auch der Armen verwies, nach.

Dass Artikel 15 problemlos durchgesetzt wurde, hatte eine Ursache auch darin, dass mit dem Grundgesetz eine zumindest vorläufige Spaltung Deutschlands vorgenommen wurde. In diese Entscheidung sollte die SPD mitgenommen und somit Protest, der an der nationalen Einheit festhielt, vorgebeugt werden. Die KPD stimmte dagegen.

Da sich jetzt und in den folgenden Jahren die kapitalistische Orientierung der Bundesrepublik durchsetzte, wurde Artikel 15 nie angewandt. Die Restauration der alten Ordnung sorgte dafür, dass bis heute im politischen System der Einfluss der kleinen Gruppe der Reichen denjenigen der Volksmassen weit überwiegt. Dennoch: Die Verfassung schreibt die Vergesellschaftung zwar nicht vor, erlaubt sie aber ausdrücklich.

Wie sozial also ist das Grundgesetz? Demokratie bedarf der Gleichheit nicht nur vor dem Gesetz, sondern auch in materiellen Verhältnissen, die allen Bürgerinnen und Bürgern denselben Anteil an der politischen Willensbildung gestatten. Der Staat hat dies zu gewährleisten – und sei es nötigenfalls durch die Überführung von Grund und Boden, Naturschätzen und Produktionsmitteln in Gemeineigentum und -wirtschaft.

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