Make Love, Not War

Das Jüdische Museum Berlin diskutiert die Liebe: Positionen, Propheten und Provokateure

Der Tumtum-Turm des israelischen Künstlers Gil Yefman
Der Tumtum-Turm des israelischen Künstlers Gil Yefman

»Mit Küssen seines Mundes bedecke er mich./ Süßer als Wein ist deine Liebe«, zitiert Ilana Pardes aus dem Hohelied des Salomon, dem »Lied der Lieder«. Nirgendwo sonst wird sexuelles Begehren mit so viel Inbrunst zum Ausdruck gebracht wie in diesem, ist die Direktorin des Zentrums für literarische Studien an der Hebräischen Universität in Jerusalem überzeugt. »Und doch ist die Sexualität in dem Lied nie offensichtlich präsent.« Es ist großteils ein trautes Zwiegespräch zwischen zwei Liebenden, ein Flüstern und Sehnen, Bitten und Verlangen. Der Namensgeber dieses uralten Liebesgedichts ist eigentlich unerwünscht. König Salomo hat die schöne Schulammit in seinen Harem gezwungen, umwirbt sie leidenschaftlich und kann doch nicht verhindern, dass sie zu ihrem Geliebten, einem Hirten, davonläuft.

Das Hohelied ist Ausgangspunkt und Rahmen der neuen Sonderausstellung im Jüdischen Museum Berlin mit dem doppeldeutigen Titel »Sex. Jüdische Positionen«. Folgerichtig war diesem denn auch die erste Begleitveranstaltung gewidmet. Ilana Pardes, digital am Dienstagabend zugeschaltet in die dem Jüdischen Museum gegenüberliegende und ebenfalls vom US-Starachitekten Daniel Libeskind entworfenen W. Michael Blumental-Akademie, beleuchtet die Rezeptionsgeschichte des »Song of the Songs«, die mit einem Rätsel beginne: »Warum wurde ein gewagtes, sinnliches Liebesgedicht, das keinerlei Bezug zu Gott hat, in die Bibel aufgenommen?«

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Rabbi Akiba ben Josef, unterm römischen Kaiser Hadrian ermordet, deklarierte: »Aber das Lied der Lieder ist hochheilig.« Jahrhundertelang, erläutert Ilana Pardes, herrschte in der jüdischen Exegese die Meinung vor, es sei ein allegorisches Gedicht, das in erster Linie die göttliche Liebe feiern solle. Die Debatte darum, ob es als sakral oder säkular zu interpretieren sei, beschäftigte nicht nur das Judentum. Im Zuge der Aufklärung votierten Gelehrte im 18. Jahrhundert, allen voran Johann Gottfried Herder, für eine buchstäbliche Lesart. Der Weimarer Theologe und Liedersammler, wandte sich gegen althergebrachte Deutungen: »Was sagt das Buch vom Anfang bis zum Ende? ... Liebe, Liebe ... Es ist, was es ist und in jedem Wort sagt: ein Lied der Liebe.« Um dies zu beweisen, hat Herder jede Strophe seziert und mit einem Kommentar versehen. »Ich lese das Buch und finde in ihm selbst nicht den kleinsten Wink, nicht die mindeste Spur, dass ein andrer Sinn Zweck des Buchs … gewesen wäre.« Ihm folgte kein Geringerer als Johann Wolfgang von Goethe.

Epigonen fand Herder auch unter Gelehrten der jüdischen Aufklärung wie etwa Salomo Löwisohn, einem um die Wende des 18. zum 19. Jahrhundert im ungarischen Teil der k.u.k.-Monarchie lebenden Judaisten und Poeten. Ein halbes Jahrhundert später indes bekräftigte der deutsch-jüdische Religionsphilosoph Franz Rosenzweig: »Nicht obwohl, sondern weil das Hohe Lied ein ›echtes‹, will sagen: ein ›weltliches‹ Liebeslied war, gerade darum war es ein echtes ›geistliches‹ Lied der Liebe Gottes zum Menschen. Der Mensch liebt, weil und wie Gott liebt. Seine menschliche Seele ist die von Gott erweckte und geliebte Seele.« Der Streit ist nicht ausgestanden, wie allein der kollegial-akademische Disput zwischen Ilana Pardes und dem Germanisten Galili Shahar von der Universität Tel Aviv, moderiert von Miriam Goldmann, Kuratorin der Ausstellung, just in Berlin bezeugte.

Das »Lied der Lieder«, ein Schlüsseltext in der israelitischen wie israelischen Kultur, ist nach wie vor unverzichtbarer Bestandteil jüdischer Hochzeitszeremonien und bietet stetig neue Inspiration für bildende Künstler und gar Pop- und Rockmusiker. Die Ausstellung offeriert neben historischen Artefakten aus zwei Jahrtausenden 150 Kunstwerke aus dem Fundus des Jüdischen Museums wie aus privaten Sammlungen in Europa, Israel, den USA und dem Kooperationspartner, dem Joods Museum in Amsterdam. Berührend, höchst irdisch und menschlich das Ölgemälde des Berliner Malers Lesser Ury von 1896: »Adam und Eva mit ihrem Erstgeborenen«. Er sitzt etwas abseits, vielleicht noch unglücklich darüber, aus dem Paradies vertrieben worden zu sein, und schielt doch neugierig und wohl etwas stolz auf Gefährtin und Sohn. Sie ist die liebevolle, das Kind zärtlich umarmende, besorgte Mutter. Hier kommt eine im Juden- wie im Christentum und Islam gängige Rollenverteilung zum Ausdruck.

»Seid fruchtbar und mehret euch«, ermunterte Jahwe seine Geschöpfe Adam und Eva. Die rabbinischen Schriften behandelten Sexualität nur im Kontext der Pflichten des Ehemanns gegenüber seiner Frau, die wiederum auf die Gebärende reduziert wird. Sie soll den Mann nicht verführen, heißt es zugleich im ersten Buch Mose respektive in der ersten Mizwa der Tora. Alles Leben erweist sich jedoch bunter, frecher, freier, lässt sich nicht von Geboten und Verboten fesseln. So auch im Judentum nicht. Die im »Lied der Lieder« aufscheinende, unkonventionelle Gleichberechtigung der Liebenden wurde und wird gelebt.

In den Kapiteln »Pflicht und Vergnügen«, »Kontrolle und Begehren«, »Sexualität und Macht« sowie »Erotik und das Göttliche« wird die ganze Spannbreite zwischen Orthodoxie und Liberalität im jüdischen Alltag verhandelt. Züchtige Kleidung wird von orthodoxen Juden ebenso verlangt wie von Strenggläubigen in den beiden anderen Weltreligionen, wie eine in der Schau zu sehende ultimative Aufforderung bezeugt.

Obzsön, ordinär oder vulgär ist hier nichts. Wie sich die Liebenden in Salomons Hohelied in Methaphern dezent-inbrünstig umwerben, einander mit Gleichnissen lobpreisen (Rose, Lilie, Wein, Öl, Gazelle, Taube, Mond, Sonne, Gold, Edelstein), so viel- und doch eindeutig ist die Artikulation von Lust, Begierde und Obsession in der hier offenbarten Kunst, darunter erfreulich viele Werke von Frauenhand. Prominent vertreten ist Judy Chicago mit ihren »Voices from the Song of Songs« (2000). Die US-amerikanische Künstlerin jüdischer Herkunft greift das Sujet aus erfrischend feministischer Sicht auf. Zwei ihrer Arbeiten wurden wohl auch darob von Ilana Pardes während ihres Vortrages exemparisch vorgestellt.

Die heute verschämt anmutende Umschreibung weiblicher und männlicher Geschlechtsorgane durch die Gelehrten des Talmuds – etwa der Vulva als »die andere Welt«, »ihr anderes Gesicht«, »Atem« oder »Grab« – karikierte Gabriella Boros mit ihrer, in der Sonderausstellung zu bewundernden Serie »Judaica« (2023), kleine Holzfiguren. Eine Foto von Benyamin Reich (2005), das einen halbnackten jungen Mann zeigt, verwandelt wiederum ein spirituelles Ritual, das Anlegen der ledernen Gebetsriemen (Tefillin), zum Sexspiel Bondage. Thematisiert wird in der Schau auch die Frage: Wie hält es das Judemtum mit LGBTIQ? Nun, wie alle Gemeinschaften, ob religiös oder atheistisch. Einen Blickfang bildet der Tumtum-Turm des israelischen Künstlers Gil Yefman im Lichthof; Tumtum meint eine Person, deren Geschlechtsorgane versteckt oder verdeckt sind.

Man mag sich fragen: Warum ausgerechnet eine Sex-Ausstellung, während blutiger Krieg »da unten«, in Nahost, tobt? Die Ausstellung ist lange vor dem 7. Oktober vergangenen Jahres konzipiert worden. Und man darf sie durchaus lesen als Aufforderung: Make Love, Not War.

»Sex. Jüdische Positionen«, Jüdisches Museum Berlin, Lindenstraße 9, bis 6. Oktober, täglich 10–18 Uhr, gleichnamiger Katalog (Hirmer) in der Ausstellung erhältlich, Begleitprogramm siehe unter www.jmberlin.de

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