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Alleingelassen im Berliner Brennpunkt

Der Berliner Senat kippt die Brennpunktzulage für Erzieher*innen, die SPD spricht von Koalitionsbruch

Auch die Kreuzberger Jens-Nydahl-Grundschule zählt zu den sogenannten Brennpunktschulen, deren Schüler*innen mehrheitlich aus schwierigen sozio-ökonomischen Verhältnissen stammen.
Auch die Kreuzberger Jens-Nydahl-Grundschule zählt zu den sogenannten Brennpunktschulen, deren Schüler*innen mehrheitlich aus schwierigen sozio-ökonomischen Verhältnissen stammen.

»Ich glaube, bis auf die oberen Hierarchien in der Verwaltung versteht niemand im Lehrbetrieb diese Maßnahme«, sagt Falk Seidel zu »nd«. Seidel ist Erzieher an der Otto-Wels-Grundschule in Kreuzberg. Die Schule gilt als sogenannte Brennpunktschule. Erzieher*innen, die in Berlin an einer solchen Schule arbeiten, werden wegen »besonders schwieriger Tätigkeit« in der Lohntabelle höher gruppiert als ihre Kolleg*innen – noch. Denn die Senatsverwaltung für Bildung hat Ende Mai alle bisher höher gruppierten Erzieher*innen per Brief darüber informiert, dass zum 1. Oktober 2024 eine Rückgruppierung vorgenommen werde. In dem Schreiben, das »nd« vorliegt, ist von einer »Irrtumserklärung« die Rede.

Den Satz »Wir sind kein Irrtum« bilden die Buchstaben, die Beschäftigte der Otto-Wels-Grundschule in die Höhe halten. Erzieher Seidel erklärt, dass an einer Foto-Protestaktion am vergangenen Montag auch Lehr*erinnen und der Schulleiter teilgenommen hätten. »Im Kollegium herrscht Fassungslosigkeit. Einige denken bereits über Versetzungsanträge nach«, sagt Seidel.

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Eine Sprecherin der Senatsverwaltung für Bildung erklärt »nd«, dass etwa 270 Erzieher*innen von der Rückgruppierung betroffen seien. Voraussetzung für die Höhergruppierung war, dass an der jeweiligen Schule der Anteil der Schüler*innen mit Anspruch auf Leistungen für Bildung und Teilhabe (BuT) nach dem Sozialgesetzbuch mindestens 80 Prozent betrug. Über eine Klausel soll zwar das bisherige Einkommen der Erzieher*innen nicht abgesenkt werden. Künftige Lohnerhöhungen würden jedoch mit dem verbliebenen Gehaltsplus verrechnet.

Die bildungspolitische Sprecherin der SPD-Fraktion, Maja Lasić, findet drastische Worte. Die Maßnahme sei »ein klarer Bruch des Koalitionsvertrags zwischen SPD und CDU«, heißt es in einer Erklärung von Lasić. Die SPD-Fraktion werde das Vorgehen von Bildungssenatorin Katharina Günther-Wünsch (CDU) nicht hinnehmen. »Es gilt, die wertvolle Arbeit der zahlreichen Erzieher*innen an Berliner Brennpunktschulen auch weiterhin durch eine angemessene finanzielle Absicherung zu würdigen«, erklärt Lasić.

Auch vom Landesverband des Jugendschutzbundes kommt Kritik. In einer Petition an Günther-Wünsch und das Abgeordnetenhaus fordert der Verband »die Brennpunktzulage für alle pädagogischen Fachkräfte an den Brennpunktschulen weiterhin zu ermöglichen, andernfalls werde ein Fachkräfteabgang mit gravierenden Folgen für die Bildungsarbeit und die Gewaltprävention« befürchtet. Bisher haben 2300 Personen die Online-Petition unterzeichnet.

Die Bildungsverwaltung bezieht sich in ihrer Rücknahme auf das Tarifrecht. Selbst die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) hätte seinerzeit auf rechtliche Probleme bei der Umsetzung hingewiesen. So würden Erzieher*innen, die die Schule wechseln oder deren Schule den Brennpunktstatus verlieren, mitunter hinter ihre ursprünglichen Gehälter zurückfallen. Bisher hat der Senat keine Anzeichen erkennen lassen, dass eine Zulage auf einem rechtlich sicheren Wege die bisherige Regelung ablösen soll. Das sagte auch ein Sprecher der GEW Berlin »nd«. Der Tarifvertrag der Länder böte hierfür durchaus Spielraum.

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An der Grundschule in der Köllnischen Heide arbeiten 34 Erzieher*innen. Zum Einzugsgebiet gehört die High-Deck-Siedlung. Die Beschäftigten hatten den Anstoß für die »Wir sind kein Irrtum«-Fotoaktion gegeben. Alexander Kübler arbeitet seit zehn Jahren an der Schule. »Das Bedrückende ist das Gefühl, abgehängt zu sein. Für die Menschen, die hier wohnen, interessiert man sich nur, wenn wie an vergangenem Silvester ein Bus brennt, gleichzeitig passiert präventiv nichts«, sagt er. Im Viertel liege die Kinderarmutsquote bei 77 Prozent. »Das bringt andere Probleme mit sich. Wir haben eine andere Gewaltsituation als an anderen Schulen. Die Mehrheit unserer Kinder weist Rückstände in Erziehung und Bildung auf. Das bedeutet eine stärkere Arbeitsbelastung für uns Erzieher*innen.«

Küblers Kollege Seidel von der Otto-Wels-Grundschule bemerkt die zunehmende Bereitschaft im Kollegium, sich von Protestaktionen und Arbeitskampfmaßnahmen mitreißen zu lassen: »Bei der letzten Auseinandersetzung war das ganze Erzieher*innenteam im Streik.«

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