Kollektive Raserei

Leo Fischer sieht in der Migrationspolitik nach der Europawahl kein Halten mehr

In der sogenannten Migrationspolitik gibt es seit der Europawahl kein Halten mehr. Für Abschiebungen nach Syrien und Afghanistan will man mit sonst geächteten Regierungen zusammenarbeiten, auch für die Grünen ist die Anerkennung der in Afghanistan herrschenden Mädchenschänderbande nicht undenkbar. Die SPD-Innenministerin beschließt eine Art erweiterter Vaterschaftskontrolle für »gemischte« Paare, denn es gibt inzwischen auch für Sozialdemokrat*innen einen Unterschied zwischen deutschen und undeutschen Vätern.

Alle Dämme sind gebrochen: In Bad Freienwalde lädt der CDU-Bürgermeister einen Rechtsextremen an eine Schule ein. Ein Landrat in Bautzen will mit Rechtsextremem zusammenarbeiten. Die Innenministerkonferenz erwägt, das verfügbare Bargeld für Geflüchtete auf 50 Euro zu begrenzen; die bizarre »Bezahlkarte«, ein milliardenschweres Geschäft für die Kreditkartenindustrie, ist schon durchgesetzt. Die »Bild«-Zeitung fordert, das grundgesetzlich verbriefte Recht auf Asyl auszusetzen – und taucht dennoch nicht im Verfassungsschutzbericht auf. Im Leitartikel der einstmals liberalen »Welt« empfiehlt der Chefredakteur den europäischen Konservativen, in Sachen Migration mit den italienischen Faschist*innen zusammenzuarbeiten; auf Twitter verhöhnt er Menschen, die sich noch über die Nazi-Parole »Deutschland den Deutschen« empören. Markus Lanz stellt sich schützend vor die AfD, wenn die in seiner Sendung als rechtsextrem bezeichnet wird.

Es ist eine Art kollektiver rassistischer Raserei, in die sich eine Politik- und Medienkaste hineingesteigert hat, die sich thematisch ausschließlich an der AfD orientiert. Quer durch alle Parteien hindurch geht der Traum des rechtsextremen Ideologen Martin Sellner in Erfüllung: Jedes politische Problem wird als Migrationsproblem behandelt, für jedes Problem werden Geflüchtete verantwortlich gemacht. Die Zahnärztin hat keine Termine frei? Geflüchtete! Die Bahn kommt zu spät? Geflüchtete!

Leo Fischer
Leo Fischer

Leo Fischer ist Journalist, Buchautor und ehemaliger Chef des Satiremagazins »Titanic«. In seiner Kolumne »Die Stimme der Vernunft« unterbreitet er der Öffentlichkeit nützliche Vorschläge. Alle Texte auf: dasnd.de/vernunft

Von Raserei muss deshalb gesprochen werden, weil es nicht einmal mehr dem Eigennutz dient: Die Wahlergebnisse zeigen, dass mit dem Rechtsruck von SPD und Grünen praktisch keine AfD-Wähler zurückgebracht wurde. Was wird als Antwort auf den mangelnden Erfolg des Rechtsrucks beschlossen? Ein weiterer Rechtsruck! Millionen sind dagegen auf die Straße gegangen, es war die größte Protestbewegung in der Geschichte der Bundesrepublik – doch die Sorgen jener Protestierenden wiegen anscheinend nichts gegen die Massenpanik, die Politik und Medien erfasst hat.

»Migration« ist als Thema für sie auch deshalb so attraktiv, weil es im Grunde reine Symbolpolitik ist. Mit grimmiger Miene kann man sich auf Pressekonferenzen Fantasiestrafen für die verhassten Fremden ausdenken, Härte zeigen. Mit den Konsequenzen dieser Politik wird man niemals konfrontiert. Für immense Summen werden Menschen in Flugzeuge gesetzt und bewacht; jeder Flug kostet mehr als der Monatsetat einer Stadtbücherei. Doch nach Wirtschaft und Nutzen wird in dieser Raserei schon längst nicht mehr gefragt.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken von Socken mit Haltung und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.

Das »nd« bleibt gefährdet

Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.