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Global vernetzt am Küchentisch
Leo Fischer fragt sich, wie eine ernsthafte Kritik der Digitalisierung aussehen müsste
Kaum einer traut sich heute noch, die Digitalisierung zu kritisieren. Zu offensichtlich ist der Komfort aus Apps und Services, zu selbstverständlich die Effizienz in der Arbeitswelt. Digitalisierungskritik, damit verbinden viele staubige Aktenwägelchen, Schreibmaschinen und Faxgeräte, eine bürokratische Welt quälend langer Wartezeiten und Ungewissheiten. Insbesondere Deutschland hängt nach Ansicht vieler meilenweit zurück, eine digitale Verwaltungsreform wird als Allheilmittel angepriesen. In Sachen Digitalisierung stellt sich mehrheitlich nur noch die Frage, wie schnell, nicht so sehr, wie und wo, und schon gar nicht nach dem Ob.
Dabei zeigt sich nicht erst seit den weltweiten Ausfällen durch ein einziges Update von CrowdStrike, wie zerbrechlich das globale Digitalsystem ist. Digitale Angriffe auf Wahlen oder die Infrastruktur gehören inzwischen zum Alltag; die Erpressung großer Unternehmen durch Ransomware ist im Versicherungsportfolio eingepreist. Achselzuckend nimmt man Phänomene wie algorithmische Radikalisierung oder stochastischen Terrorismus hin – man hat sie als Teil der neuen Social-Media-Realität in Kauf zu nehmen. Die nahezu lückenlose Überwachung von Verbraucher*innen durch kommerzielle Cookies und Tracking geht weiter, als die meisten Geheimdienste träumen könnten, wird jedoch kaum problematisiert. Das organisierte Verbrechen hat durch Blockchain-Währungen eine nahezu narrensichere Möglichkeit, sein Vermögen dem Zugriff der Öffentlichkeit zu entziehen.
Leo Fischer ist Journalist, Buchautor und ehemaliger Chef des Satiremagazins »Titanic«. In seiner Kolumne »Die Stimme der Vernunft« unterbreitet er der Öffentlichkeit nützliche Vorschläge. Alle Texte auf: dasnd.de/vernunft
Noch tiefer reicht die Digitalisierung in die Arbeitswelt. Homeoffice und Cloudcomputing schaffen Büroarbeiter*innen eine nie gekannte Freiheit, auf die viele nicht mehr verzichten wollen. Gleichzeitig lösen sich, wenn alle am Küchentisch arbeiten, die Fürsorgepflichten der Arbeitgeber*innen auf. Und: Durch Digitalisierung verdichtet sich die Arbeit in nicht gekannter Weise. Mit Künstlicher Intelligenz und Managementtools werden Routinearbeiten vereinfacht. So lässt sich viel mehr Arbeit in die Arbeitsstunde zwingen: Überwachungssoftware registriert, ob sich die Mauszeiger artig bewegen, ob fleißig getippt wird; virtuelle Vorarbeiter mahnen, wo das Tempo nachlässt. Diese Effizienz führt keineswegs zu höherem Wohlstand: Trotz linear steigender Produktivitätsgewinne stagnieren die Reallöhne; die Mehrleistung wird zu fast 100 Prozent vom Kapital abgeschöpft.
In den Visionen des Silicon Valley gibt es keine Antwort auf die Frage, was mit jenen geschehen soll, deren Arbeit durch Künstliche Intelligenz überflüssig wird. Nur wenigen wird es vergönnt sein, Teil jener Service-Elite zu werden, die in die durchgentrifzierten Städte pendeln darf, um dort Dienstleistungen für die Superreichen auszuführen. Die Befreiung von Arbeit wird zur Bedrohung dort, wo Arbeit noch Voraussetzung für die Teilnahme an den Sozialsystemen, letztlich an der Gesellschaft insgesamt ist. Eine materialistische Digitalisierungskritik, die nicht als maschinenstürmerische Posse auftritt, muss lernen, nach dem Wie und Wozu der Digitalisierung zu fragen.
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