»Altbau in zentraler Lage«: Gespenster der Zukunft

Das Schauspiel Leipzig zeigt mit der Uraufführung von Raphaela Bardutzkys »Altbau in zentraler Lage« den Wahnsinn auf dem Wohnungsmarkt

  • Lara Wenzel
  • Lesedauer: 4 Min.
Ein »Altbau in zentraler Lage«, wie der Titel verspricht? Oder doch nur »Fickzellen mit Fernheizung«, vor denen Heiner Müller warnte?
Ein »Altbau in zentraler Lage«, wie der Titel verspricht? Oder doch nur »Fickzellen mit Fernheizung«, vor denen Heiner Müller warnte?

Ende des 19. Jahrhunderts platzten die Städte aus allen Nähten. Arbeiter*innen zogen vom Land in die urbanen Zentren und versuchten eines der immer teurer werdenden Betten zu ergattern. Familien lebten zusammengedrängt in einem Zimmer und zogen am »Ziehtag«, an dem alle sechs Monate die Mietverträge endeten, obdachlos mit Sack und Pack durch die Straßen. Geweckt durch die Wohnungsnot unserer Tage, rühren sich die Gespenster des Laissez-faire-Kapitalismus und suchen die gepeinigten Mieter von heute heim.

In der Schaueroper »Altbau in zentraler Lage« treffen zwei Phasen des Kapitalismus aufeinander, in denen Wohnen prekärer wird und die Zahl der Wohnungslosen steigt. 1880 wurde das Haus hochgezogen, in dem die junge Zoey lebt und ihren Weg in der Großstadt finden will. Voller Energie und Lebensfreude, die Paula Winteler auf der Bühne performt, will sie die Metropole aus vollen Zügen genießen, aber sie hat Schlafstörungen. Wenn die Runnerin um 4 Uhr morgens vom Club nach Hause kommt, bevölkern grausige Musik und bleiche Gestalten ihre Träume.

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Mit Rüschen und weißen Perücken bewegen sich die drei Gespenster mit skurrilen Bewegungen durch den Kubus auf der Drehbühne und machen den Bewohnerinnen des Hauses die Nacht zur Hölle. Zugleich drängt die Emerald International Real Estate GmbH die letzten Mieterinnen zum Auszug, um das Gebäude kernzusanieren. So leeren sich die Wohnungen zusehends, bis nur noch die hörende Zoey und die taube Trisha, die gegen die Geistermusik immun ist, übrig bleiben.

Das Auftragswerk des Schauspiels Leipzig, geschrieben von Raphaela Bardutzky, arbeitet die Realität der Wohnungsnot in all ihren Konsequenzen durch. Nach der Zwangsräumung wird Zoey obdachlos und stirbt, zerrüttet vom kapitalistischen und übernatürlichen Grauen, bei einem Autounfall. Der drastische Hergang macht betroffen, aber trägt nichts zum tieferen Verständnis der Wohnungsnot bei. Auch die Gespenster, die auf eine interessante historische Parallele verweisen, erwähnen diese nur in zwei Sätzen und suchen gerade die Menschen heim, die in der gleichen Misere sind wie sie. Dabei gab es Ende des 19. Jahrhunderts politische Bewegungen, die sich gegen den Wohnungswahnsinn stellten, nach Zwangsräumungen Zimmer mit Gewalt wieder bezogen und so die Enteignung von Häusern nicht nur forderten, sondern auch zur Praxis machten. Solidarische Gespenster, die sich gegen die Exmittierung wenden und nicht gegen die Betroffenen, wären historisch akkurat.

Ein Erfolg ist die Inszenierung von Regisseurin und Choreografin Salome Schneebeli nicht durch den aktuellen Konflikt, den sie eher oberflächlich durchspielt. Ihre Leistung besteht in der Zusammenarbeit mit gehörlosen Schauspieler*innen und der Simultanübersetzung in Gebärdensprache, die sich nahtlos in die Inszenierung einfügt. Auf der Bühne findet der Prozess seine Übertragung in der keimenden Freundschaft der Nachbarinnen Zoey und Trisha. Zum Kennenlernen kommt es, weil Zoey, um die Gespenster zu vertreiben, laut Techno aufdreht. Das raubt Trisha den Schlaf, weil sie die Vibrationen durch die Wand spürt.

Athena Lange, die die Freundin im Nebenzimmer spielt, ertaubte mit 20 Jahren und arbeitet als bilinguale Künstlerin. Bereits im Schreibprozess beriet sie Autorin Bardutzky, um die mixed-abled Freundschaft überzeugend auf die Bühne zu bringen. Die Übersetzung zwischen den Sprachen braucht Zeit. Erst versucht es die punkige Zoey mit ausladender Pantomime, um ihr Gespensterproblem zu erklären, dann nutzt sie endlich Zettel und Stift, bis sie zuletzt einzelne Gebärden lernt, um mit ihrer Freundin zu sprechen.

Die Übersetzung, aber auch das gemeinsame Spüren von Musik verbindet die unterschiedlichen Nachbarinnen. Mr. Averige, der Property Manager des Hauses, nimmt sich nicht die Zeit, sein gesprochenes Wort zu übertragen, wenn er von der drohenden Zwangsräumung spricht. So zeigt er, wie schnell gehörlose Menschen im Alltag entmündigt werden können.

Um solche Situationen zu verhindern, hat sich das Inszenierungsteam von Aktivisten vorher coachen lassen und insgesamt acht Gebärdendolmetschende engagiert. Von einem regulären Produktionsbudget ließen sich diese notwendigen Stellen für inklusive Arbeit nicht bezahlen. Erst durch eine Förderung der Kulturstiftung des Bundes war das Probieren auf Augenhöhe möglich. Dass diese wichtige Öffnung des Kulturbetriebs nicht für alle ein längst überfälliges Minimum darstellt, zeigen die Kürzungen in Berlin. Diese treffen vor allem Programme, die Barrieren für Künstler*innen mit Behinderungen abbauen und marginalisierte Künstler*innen unterstützen. Nach Jahren des Aufbruchs klopft die alte Norm wieder an die Tür. Diversität und Inklusion, die Teilhabe aller an Kunst und Kultur, will man sich nicht mehr leisten. In dieser sozialdarwinistischen Zukunft fiele die Inszenierung am Schauspiel Leipzig wieder aus dem Budget.

Nächste Vorstellungen: 1., 15. und 30.12.
www.schauspiel-leipzig.de

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