- Politik
- 80 Jahre Befreiung
»Verdrängt und unerinnert«
Eine halbe Million Sinti und Roma wurden vom NS-Regime ermordet. Das Gedenken an diese Opfergruppe passte nicht zum Selbstbild der DDR
Auch in diesem Jahr hat das Berliner Bezirksamt Marzahn-Hellersdorf am 8. April die blaugrüne Flagge gehisst, am Internationalen Tag der Roma. Das Blau in der Fahne steht für den Himmel, das Grün für die Erde und das Speichenrad in der Mitte gilt als Symbol für das fahrende Volk. In der Roma-Community, zu der auch die Sinti gehören, ist die Fahne umstritten. Auf der Internetseite des Zentralrats deutscher Sinti und Roma sucht man das Speichenrad vergeblich, ebenso die Farben Blau und Grün. Aber egal, in der Presseerklärung ist von einem wichtigen Zeichen die Rede.
»An diesem Tag machen wir darauf aufmerksam, dass Menschen dieser ethnischen Gruppe nach wie vor großen Vorurteilen ausgesetzt sind und ausgegrenzt werden«, so die CDU-Bezirksbürgermeisterin Nadja Zivkovic. Gerade ihr Bezirk, sagt sie, stehe in dieser Hinsicht »in einer besonderen Verantwortung, den Blick dorthin zu lenken«. Das sind Worte, die im Kontrast zur Politik ihrer Partei stehen: Friedrich Merz wird nicht müde, eine restriktive Asylpolitik zu fordern. Und die Roma, so sie zum Beispiel aus Serbien eingewandert sind, gehören zu denen, die heute als Erste abgeschoben werden. Ein solcher Widerspruch von Reden und Handeln hat in Berlin-Marzahn eine lange Tradition.
Antrag abgelehnt
Vor 40 Jahren wollte eine Gruppe von DDR-Bürgern in einer Gedenkminute an die Befreiung des Marzahner Zwangslagers erinnern. Das Lager hatte sich nahe dem Friedhof befunden. Von 1936 bis 1945 hatten hier etwa 1200 Sinti unter elenden Bedingungen leben müssen. Die meisten von ihnen starben in Auschwitz. Ein Stück Berliner Geschichte, wie der verstorbene Schriftsteller Reimar Gilsenbach schrieb, »verdrängt und unerinnert«. Der »Rastplatz Marzahn« war das erste Lager für rassistisch Verfolgte, auch noch bei den ehemaligen Rieselfeldern, was die Reinheitsgebote der Sinti verhöhnte und die Opfer noch einmal zusätzlich demütigte. Hitler hatte das Lager im Mai 1936 errichten lassen, rechtzeitig vor den Olympischen Spielen. Gilsenbach schreibt: »Die Sportjugend der Welt sollte die Reichshauptstadt zigeunerfrei sehen. Noch bevor die Synagogen brannten, gab es Marzahn, noch vor Buchenwald und Ravensbrück, noch vor den Ghettos von Lodz und Warschau, noch vor Treblinka und Auschwitz…«
Im Jahr 1965 war Gilsenbach von der »Wochenpost« beauftragt worden, dem Leserbrief einer Sintiza aus Leipzig nachzugehen. Annett Gröschner schrieb dazu viele Jahre später in der »Taz«: »Seine Reportage wurde nie gedruckt, aber Gilsenbach hatte sein Thema gefunden: Die Sinti sollten endlich als Verfolgte des Naziregimes anerkannt werden.« Etwa 300 von ihnen lebten noch in der DDR. In einem seiner Bücher – »Django, sing deinen Zorn«, erschienen drei Jahre nach der Wiedervereinigung – erinnerte sich Gilsenbach an den Pfarrer aus Neuenhagen bei Berlin, Peter Leu, der 1985 vergeblich versucht hatte, nahe dem alten Gelände des Marzahner Zwangslagers eine Gedenkveranstaltung anzumelden. »Zigeunerlager Marzahn Gedenkminuten«, so lautete die Überschrift im Anschreiben an die Behörden. Dem Antrag sei auch das Gebet beigelegt gewesen, das Pfarrer Leu dort vor einer Handvoll Christen sprechen wollte, im Beisein von einem Dutzend Sinti, den Kindern und Enkeln der Opfer. »Herr, wir sind gemeinsam an diesen Ort der Erinnerung gegangen«, hieß es in der Abschrift, die von der Abteilung Erlaubniswesen geprüft worden war. »Uns begegnet vergangene Schuld. Welches Gedenken ist schon angemessen den Abgründen des Grauens! Lass aus dieser Erinnerung uns Verantwortung wachsen füreinander, für unsere Welt und ihre Befreiung zum Frieden. Amen.« Der Antrag wurde abgelehnt.
Wenn es Pfarrer Leu nur um das stille Gedenken an die ermordeten Sinti gegangen wäre, hätte er die Gedenkminute auf dem Brachland unweit des S-Bahnhofs Bruno-Leuschner-Straße einfach durchführen und gemeinsam mit den befreundeten Sinti vor Ort einen Moment im Gebet verweilen können: Wo kein Kläger, da kein Richter. Von staatlicher Seite wäre vermutlich nichts passiert. Im Gespräch mit dem Autor dieses Artikels erinnert sich Pfarrer Leu, nunmehr im Ruhestand, dass es ihm damals aber um viel mehr ging als um eine Anmeldung zum öffentlichen Gebet. Staat und Gesellschaft sollten sich mit diesem Thema beschäftigen: der Ermordung von einer halben Million Sinti durch die Nazis.
Eine Diskursintervention
Heutzutage würde man von einer radikalen Diskursintervention sprechen – nur gab es in der DDR keine »Diskurse«. Das war das Problem. Die politischen Strukturen dieses Staates waren nie dafür gedacht, dass in ihnen eines Tages Menschen zusammenkommen, um miteinander kritische Fragen zu diskutieren. Der Antrag des Pfarrers berührte den antifaschistischen Gründungsmythos der DDR, wenn man so will: die politische Geschäftsgrundlage.
Davon erzählt auch Gilsenbach in seinem Buch. Am 8. Mai 1985, zum 40. Jahrestag der Befreiung vom Hitlerfaschismus, seien allerorten Reden gehalten worden, im Gedenken an die Opfer, die unter dem Fallbeil gestorben oder in den Lagern zugrunde gegangen waren. Höchste Repräsentanten hatten gesprochen, »gefeierte Veteranen des Widerstandes«. Nur habe kein einziger Redner unter den Opfern die Sinti erwähnt, nicht in Buchenwald oder Sachsenhausen und auch nicht in der Gedenkstätte Ravensbrück. »Und keiner von all den Rednern ist nach Marzahn gegangen!«
Am 8. Mai 1985, zum 40. Jahrestag der Befreiung vom Hitlerfaschismus, waren allerorten Reden gehalten worden. Nur hatte kein einziger Redner unter den Opfern die Sinti erwähnt.
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Dass die Gedenkminute damals untersagt wurde, angeblich weil bereits überall im Land der Opfer des Faschismus gedacht wurde, ist bezeichnend für das Wesen der staatlichen Antifaschismusdoktrin. In dieser Zeitung muss man nicht betonen, dass Politbüro und Parteiapparat ihre Herrschaftslegitimation nie aus freien Wahlen bezogen, sondern aus dem angeblich gesetzmäßigen Verlauf der Geschichte: Weil Kommunisten diesen hohen Blutzoll gezahlt hatten im Kampf gegen den Faschismus, gebührte ihnen die Führungsrolle im ersten Arbeiter- und Bauernstaat auf deutschem Boden. Wenn aber die Roma in der NS-Zeit viel mehr Opfer als die Kommunisten zu beklagen hatten, was nachweislich der Fall war, dann war auch die alte Staatserzählung in Frage gestellt.
Tradition und Erbe
Grob gesagt, unterschieden die Historiker in der DDR daher zwischen Tradition und Erbe. Im kollektiven Bewusstsein galten die Sinti als arbeitsscheue »Zigeuner«, als ein »fahrendes Volk«, das Musik mache und auch stehle und bettele. Die allerorten um Ordnung, Disziplin und Planerfüllung bemühten SED-Verantwortlichen nahmen die Ermordung von einer halben Million Roma nicht in die Begründung ihrer antifaschistischen, revolutionären Tradition auf. Das Sterben der Roma und Sinti in den Gaskammern war ein deutsches Erbe, das die DDR (wie im Übrigen auch die westdeutsche Erinnerungspolitik) nicht anzunehmen bereit war – dies im Unterschied etwa zur Shoa.
Der Mord an sechs Millionen europäischen Juden nahm in der Erinnerungslandschaft der DDR-Bürger durchaus einen größeren Raum ein, erwähnt sei nur Frank Beyers »Jakob der Lügner«, nach dem Roman von Jurek Becker, der einzigen Filmproduktion der DDR, die jemals für einen Oscar nominiert wurde. Die ermordeten Sinti und Roma aber kamen im kollektiven Gedächtnis kaum vor. »Ede und Unku«, das Kinderbuch von Alex Wedding aus dem Jahr 1931, war zwar Schullektüre. Als aber Reimar Gilsenbach über das Schicksal Unkus und ihrer Angehörigen schrieb, wurden seine Artikel in der DDR nicht gedruckt. Kaula, Unkus Cousine, war die Einzige aus der Familie, die den Genozid überlebt hatte. Gilsenbach verhalf ihr zu einer Opferrente als Verfolgte des Naziregimes, ebenso der Sintezza Margarete Kraus, die bei ihrem ersten Antrag keine drei Zeugen für ihre Deportation benennen konnte. Wie auch? Ihre Angehörigen waren alle ermordet worden. Auf dem Unterarm aber trug sie noch immer die in Auschwitz eintätowierte Häftlingsnummer.
Dass sich ausgerechnet die evangelische Kirche, in der Person von Pfarrer Leu und bald auch des Marzahner Pfarrers Bruno Schottstädt, der Erinnerung an dieses Unrecht annahm, ist erstaunlich. Denn ähnlich dem Antisemitismus gehört auch zum rassistischen Antiziganismus eine religiöse Entstehungsgeschichte. Hatte es doch eine Zeit gegeben, da Luther noch von den Fürsten verlangte, die Juden »wie die Zigeuner« zu behandeln. Womit offensichtlich die Verbringung in ein Arbeitshaus gemeint war, wo Arbeitspflicht herrschte und die Insassen, männliche wie weibliche, zur Zwangsarbeit angehalten wurden. In der sozialen Hierarchie standen die »Zigeuner« zu allen Zeiten weit unter den Juden, die es aus kirchlicher Sicht wenigstens zu missionieren galt.
Es muss ja niemand dabei sein
Erstaunlich ist auch der Fortgang der Geschichte: Zwölf Monate nach dem staatlichen Verbot einer Gedenkminute durfte in Marzahn eine kirchliche Gedenkveranstaltung stattfinden, am 29. Juni 1986 auf dem städtischen Friedhof, ausdrücklich für »die Opfer des faschistischen Zwangslagers für Sinti«. Und noch im September desselben Jahres wurde ein Gedenkstein des Künstlers Jürgen Raue enthüllt. Allerdings fand die Einweihung – immerhin um den Tag der Opfer des Faschismus, den 12. September, also kein beliebiges Datum – ohne jede Ankündigung in der Presse statt. »Die SED stand damals unter Zugzwang, zu diesem Thema musste etwas geschehen«, sagt Pfarrer Peter Leu, »aber es musste ja niemand dabei sein.«
Dass bei der Veranstaltung auch einige Sinti zugegen waren, war einem Zufall geschuldet. Einige Tage zuvor hatten sie den Friedhof besucht, um dort die Gräber ihrer Angehörigen zu pflegen, als die Friedhofsgärtnerin auf sie zukam und ihnen von der bevorstehenden Einweihung des Gedenksteins erzählte. Weil nur zwei Tage blieben, war eine Mobilisierung innerhalb der Gemeinschaft der Sinti kaum mehr möglich. Pfarrer Leu erinnert sich noch gut an die beiden FDJler, die am Stein Ehrenwache hielten. Arbeiterveteranen waren zugegen und Vertreter vom Marzahner Bezirksamt. Auf einem Notizzettel notierte Leu damals, dass die Organisatoren erst am Ende die Anwesenheit der Sinti bemerkten. Beim Verlassen des Friedhofs hieß es: »Ach, wir wussten gar nicht, dass Ihr da seid.«
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