80 Jahre Befreiung: Die Wahrheit und die Widersprüche

Die deutsche Politik leistet sich eine absurde Debatte darüber, ob das Land der Befreier vom Faschismus beim Erinnern an die Befreiung dabei sein darf

Umstritten: Der russische Botschafter Sergej J. Netschajew nahm im April am Gedenken an die Schlacht um die Seelower Höhen in Ostbrandenburg teil.
Umstritten: Der russische Botschafter Sergej J. Netschajew nahm im April am Gedenken an die Schlacht um die Seelower Höhen in Ostbrandenburg teil.

Wie soll man an die Befreiung vom Faschismus im Frühjahr 1945 angemessen erinnern? Wie soll man der Opfer, wie vor allem der etwa 27 Millionen Sowjetbürgerinnen und -bürger gedenken, die von deutschen Faschisten und ihren Verbündeten getötet wurden? Diese Fragen stellen sich seit dem russischen Überfall auf die Ukraine vor mehr als drei Jahren – und sie lassen keine einfachen Antworten zu. Denn jede einfache Antwort verschweigt etwas.

Die eine einfache Antwort wäre: Wir laden die Russen aus und halten sie fern, denn mit Aggressoren feiert man nicht. Eine entsprechende Empfehlung hat das Auswärtige Amt herausgegeben. Die andere wäre: Augen zu und durch, egal, was Putins Armee gerade in der Ukraine anrichtet.

Beides wäre falsch. Geschichtsvergessenheit wiegt Gegenwartsvergessenheit nicht auf. Es genügt nicht die einfache Wahrheit, wie der Dramatiker Volker Braun in anderem Zusammenhang festhielt. In aufgeklärten Zeiten und unter aufgeklärten Leuten sollte es möglich sein, die Verdienste der Sowjetunion im Kampf gegen den Hitlerfaschismus anzuerkennen und gleichzeitig zu kritisieren, wie dieses Erbe von Putin in den Dienst seiner Aggression in der Ukraine gestellt wird. Es sollte möglich sein, den russischen Angriffskrieg zu verurteilen und zugleich die Verstrickungen und Interessen des Westens im Ukraine-Konflikt zu benennen. Es sollte möglich sein, trotz allem Dankbarkeit dafür zu bekunden, dass maßgeblich die Rote Armee – die viele Gesichter hatte, nicht nur russische – unter riesigen Opfern das geschafft hat, was die Deutschen nicht konnten oder wollten: dieses Land vom Faschismus, von einem mörderischen Regime zu befreien.

Wer das in Wort oder Tat ablehnt oder ignoriert, ist jenen, die das Ende eines vermeintlichen Schuldkults fordern, näher, als er glaubt. Demokraten, für die der Begriff Anstand eine Rolle spielt, sollten sich mit solchen Positionen nicht gemein machen. Die historische Verantwortung, die aus den Naziverbrechen erwächst, wird nie abgegolten sein; daraus selbstgerecht eine moralische Überlegenheit abzuleiten, ist nicht viel weniger fatal, als die Verbrechen zu verharmlosen.

Deutschland ist und bleibt, was den Zweiten Weltkrieg und die Zeit des Faschismus betrifft, das Land der Täter, für das die zwölf NS-Jahre eben kein Vogelschiss sein dürfen. Wer sind die Deutschen mit ihrer Geschichte des Herrschaftsanspruchs und des Rassenwahns, dass sie gegenüber anderen den Daumen heben oder senken dürften? Haltung sollte sein, Demut aber auch. Zumal dieser 80. Jahrestag der Befreiung der letzte runde sein dürfte, bei dem sich noch Zeitzeugen äußern können.

Vor 40 Jahren, 40 Jahre nach dem Ende des Kriegs, bezeichnete der damalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker den 8. Mai als Tag der Befreiung, an dem man aller Völker gedenke, »die im Krieg gelitten haben, vor allem der unsäglich vielen Bürger der Sowjetunion und der Polen, die ihr Leben verloren haben«. Es war im Jahre 1985 eine geschichtspolitische Revolution für die alte Bundesrepublik. Das vereinigte Deutschland sollte nicht dahinter zurückbleiben. »Schauen wir am heutigen 8. Mai, so gut wir es können, der Wahrheit ins Auge«, sagte Weizsäcker. Einfach ist diese Wahrheit nicht. Die Widersprüche dabei müssen wir alle aushalten.

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