Gewerkschaftshäuser in Berlin: Rote Bastionen an der Spree

Anhand seiner Gewerkschaftshäuser lässt sich Berlins proletarische Geschichte erkunden

Die rote Burg am Engelufer in Kreuzberg im Jahr 1900
Die rote Burg am Engelufer in Kreuzberg im Jahr 1900

In einer mehrteiligen Artikelserie zum Alkoholismus und seiner Bekämpfung schreibt der deutsche Sozialdemokrat Karl Kautsky 1891: »In seinem Klub ist der Arbeiter völlig frei, da ist er Herr des Hauses, da hat ihm niemand etwas dreinzureden, auch nicht die Polizei (…) Dort kann der Arbeiter mit seinen Genossen zusammenkommen und sich besprechen, ohne irgendetwas zu sich nehmen zu müssen.«

Bis 1890 galt im Deutschen Reich das Sozialistengesetz, mit dem auch die Gewerkschaften verboten wurden. Als sie ihre Tätigkeit wieder aufnahmen, waren sie bestrebt, sich der Abhängigkeit von Brauereibesitzern und Gastwirten zu entziehen. Weder in den privat betriebenen Kneipen noch auf der offenen Straße fühlte man sich ausreichend unbeobachtet, um frei der Gewerkschaftsarbeit nachgehen zu können. Und stets war da die Vorbedingung, auch etwas trinken zu müssen. Um dem zu entgehen, behalf man sich zunächst damit, Treffen und Kundgebungen in sogenannten Verkehrslokalen abzuhalten, in denen sich je ein bestimmtes Arbeitermilieu traf und deren Wirtsleute häufig ebenfalls Mitglied in einem Arbeiterverein waren.

An der Schwelle zum 20. Jahrhundert mit dem enormen Wachstum der städtischen Industrie schossen die Mitgliedszahlen der Gewerkschaften in die Höhe. Wurden laut Berliner Gewerkschaftsstatistik 1894 noch 28 000 Mitglieder gezählt, waren es 1900 bereits 95 000. Im Jahr 1913 hielten 302 000 Personen einen Gewerkschaftsausweis, darunter 28 000 Frauen. Nicht nur für den Austausch und die Bildung innerhalb der Mitgliedschaft, auch für die Organisation und Planung sowie die Verwaltung ging damit ein erhöhter Platzbedarf einher.

In Berlin gründete ein Kreis von Gewerkschaftern und Sozialdemokraten 1897 eine Gewerkschaftshausgesellschaft. Mit den aus Mitgliedsbeiträgen geschöpften Kapitaleinlagen von 28 Gewerkschaften, vor allem aber mit der Zuwendung des vermögenden, aus einer jüdischen Bankiersfamilie stammenden Sozialdemokraten Leo Arons erwarb die Gesellschaft 1898 ein Grundstück am Engelufer (dem heutigen Engeldamm in Kreuzberg). Bis 1900 entstand das deutschlandweit erste von Gewerkschaften selbst geplante und gebaute Gewerkschaftshaus.

Als Baumaterial wurde im Wesentlichen auf Ziegelsteine zurückgegriffen, deren rote Flächen nur von einigen weiß verputzten Stellen aufgelockert werden. Das Gebäude ist zudem durchsetzt mit einigen neogotischen Gestaltungselementen wie Rundbogenfenstern und Ziertürmchen. Das Gewerkschaftshaus wurde daher auch als rotes Haus oder rote Burg bezeichnet. Die Gesamtkosten beliefen sich am Ende auf 1,6 Millionen Reichsmark.

Im Haus am Engeldamm fand neben Büro- und kleineren Veranstaltungsräumen auch ein großer Saal für bis zu 1300 Personen Platz. Im Quergebäude befanden sich eine Herberge mit 200 Schlafplätzen, der Küchenbereich für das von der Straßenseite zugängliche Hauptrestaurant, eine Waschküche und Kegelbahnen. Außerdem kamen in der roten Burg eine Badeanstalt und der zentrale Arbeitsnachweis – die Stellenvermittlung – unter.

»Dort kann der Arbeiter mit seinen Genossen zusammenkommen und sich besprechen.«

Karl Kautsky (Sozialdemokrat)

Johannes Sassenbach, Leiter des Hauses und einer der Geschäftsführer der Gewerkschaftshausgesellschaft führte in einer Presseerklärung aus: »Die Richtschnur bei der Entwerfung der Pläne musste sein: möglichste Ausnutzung des vorhandenen Bodens, praktische Anordnung der einzelnen Räumlichkeiten, Benutzung aller modernen Errungenschaften und gefällige, das Auge befriedende Architektur, dabei Vermeidung aller unnützen Kosten.« Auf Initiative von Sassenbach und Arons entwickelte sich das Gewerkschaftshaus zu einem zentralen Kultur- und Bildungsort. 1906 wurden zentrale gewerkschaftliche Unterrichtskurse eingerichtet.

1919 schlossen sich die freien – also sozialistisch und sozialdemokratisch orientierten – Gewerkschaften zum Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbund (ADGB) zusammen. Bis 1920 wuchs allein seine Mitgliederzahl auf bundesweit über acht Millionen an. An allen Ecken und Enden Berlins begannen die Gewerkschaften nun zu bauen und sich ihrem Einfluss entsprechend im Stadtbild Raum zu verschaffen.

Mit der Zeit änderte sich auch der Stil der Gewerkschaftsbauten. So fanden viele Architekten der neuen Sachlichkeit, etwa Max Taut, in den Gewerkschaften als Bauherren eine Heimat, in der sie ihre Ideale verwirklichen konnten. Die Gestalt der Bauten sollte sich an ihrem Zweck orientieren. Gebaut wurde schnörkelloser und unter Einsatz von Stahlbeton. Viele und große Fenster sollten die Räumlichkeiten mit ausreichend Licht versorgen. So entstanden allein in Kreuzberg ebenfalls am Engeldamm das Haus des Deutschen Verkehrsbundes, das Bundeshaus des ADGB in der Wallstraße oder das Verbandshaus der Deutschen Buchdrucker in der Dudenstraße. Die letzten beiden befinden sich heute noch im Besitz der Industriegewerkschaft Bergbau, Chemie, Energie beziehungsweise von Verdi. In der roten Burg befinden sich inzwischen Eigentumswohnungen.

Am 2. Mai 1933 stürmten die SA und die SS die Häuser der freien Gewerkschaften. Das Gewerkschaftsvermögen wurde eingezogen. Die nationalsozialistische Deutsche Arbeitsfront (DAF) richtete in einigen Häusern Verwaltungsstellen ein, der Rest wurde verkauft. Nur wenige überstanden den Krieg unbeschadet. In den Folgejahren wurden die beschlagnahmten Häuser den gewerkschaftlichen Nachfolgeorganisationen übereignet. Für die zum Freien Deutschen Gewerkschaftsbund der DDR (FDGB) gehörenden Häuser konnte nach dessen Auflösung 1990 lediglich ein Rückkauf von einigen bedeutenden Häusern erreicht werden.

Wer heute erkunden will, hinter welchen Berliner Fassaden Gewerkschaftsgeschichte steckt, sei auf den vergriffenen, aber entleihbaren Stadtführer »Mit den Groschen der Mitglieder« verwiesen. In den ersten Maitagen bieten zudem die ehrenamtlich arbeitenden Kreisverbände des DGB regelmäßig Stadtspaziergänge zum Thema an. Und auch am Tag des offenen Denkmals Mitte September dürfte wieder das ein oder andere Gebäude zu erkunden sein.

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