Finanzlage der Krankenkassen: Die verschleppte Krise

Bei den Krankenkassen wird das Geld knapp. Was sind die Gründe – und was wären die Lösungen?

Das Gesundheitsproblem der Softdrinks ist der hohe Zuckergehalt. Aber auch Süßstoffe können die Darmflora stören und machen hungrig.
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Steigende Kosten und gesetzliche Änderungen haben die Finanzen der Krankenkassen aus der Balance gebracht. Ihre Reserven schwinden, zusätzliche Ausgaben sind bereits absehbar. Was tun? Leistungskürzungen will die Politik vermeiden, höhere Beiträge für die Krankenkassen gelten als schwer vermittelbar. Die Bundesregierung schiebt das Problem daher auf die lange Bank, gründet Reformkommissionen und stopft einige Finanzlöcher. Dabei liegen Vorschläge für nachhaltige Lösungen auf dem Tisch – die gefallen aber nicht allen.

In absoluten Zahlen wirken die Gesamtausgaben Deutschlands für sein Gesundheitssystem beeindruckend: Im Jahr 2024 waren es fast 538 Milliarden Euro. Gegenüber dem Vorjahr war dies ein Anstieg – der Anteil der Ausgaben an der Wirtschaftsleistung allerdings ist gesunken: von der Höchstmarke von 12,9 Prozent 2021 auf 11,4 Prozent 2024. Das ist immer noch Wert unter den Top drei der OECD, aber im Vergleich sind die Menschen hierzulande kränker und sterben früher.

Es gibt kaum Ansätze, die es den Bürgern einfacher machen würden, gesünder zu leben.

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Wie rasant das Ausgabenwachstum ist, lässt sich an den vorläufig berechneten Angaben der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV) für 2024 erahnen: Sie lagen bei fast 327 Milliarden Euro – gegenüber 265 Milliarden Euro 2022. Die reinen Leistungsausgaben 2024 erreichten etwa 312 Milliarden Euro. Den größten Teil davon erhielt der Krankenhaussektor mit 102 Milliarden Euro. Etwa halb so viel, nämlich 55 Milliarden Euro, mussten für Arzneimittel ausgegeben werden, und die ambulante ärztliche Versorgung erforderte 50 Milliarden Euro. Der Rest verteilte sich auf die zahnärztliche Behandlung, Zahnersatz, Heil- und Hilfsmittel, Krankengeld, Reha und Vorsorge sowie, deutlich abgeschlagen, auf Prävention und Selbsthilfe.

Die Frage, ob diese Summen denn nicht reichen, wird vermutlich von den sogenannten Leistungserbringern, also Krankenhäusern, Pharmaherstellern, Apotheken bis hin zu niedergelassenen Ärzten und Therapeuten niemals bejaht werden. Schon der »medizinische Fortschritt« treibt die Ausgaben weiter. Hinzu kommt der wachsende Anteil älterer Menschen, dessen Erkrankungsrisiken in vielen Feldern höher sind als bei jüngeren.

Im Fokus der Ausgabenpolitik stehen für den Gesetzgeber die gesetzlichen Kassen. Letztere mussten in den vergangenen beiden Legislaturperioden mit ansehen, wie ihre Finanzkraft geschwächt wurde. Zwar hatten sie zwischen 2011 und 2018 ein solides Plus von 31 Milliarden Euro (Mittelbestand und Liquiditätsreserve) aufgebaut. Bis 2024 schrumpfte das Polser aber auf 7,8 Milliarden Euro. Unter anderem wurden der Liquiditätsreserve des Gesundheitsfonds 2020 2,3 Milliarden Euro für pandemie-bedingte Sonderausgaben entnommen.

Wer gibt wie viel für Gesundheit aus?

Die Gesundheitsausgaben in Deutschland lagen 2023 bei insgesamt 494,7 Milliarden Euro. Gut die Hälfte, nämlich 279,1 Milliarden, kamen von der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Es folgten die privaten Haushalte (sowie Organisationen) und die soziale Pflegeversicherung etwa gleichauf mit 59,3 bzw. 58,1 Milliarden, öffentliche Haushalte mit 23,4 Milliarden Euro, die private Krankenversicherung mit etwa 41,8 Milliarden und die Arbeitgeber mit 20,4 Milliarden Euro. Den Rest teilten sich die Gesetzliche Renten- und Unfallversicherung mit zusammen 12,5 Milliarden Euro. Hierfür liegen noch keine neueren Zahlen vor.
Die vier Sozialversicherungszweige tragen hier den Löwenanteil der Ausgaben, nämlich insgesamt 70,8 Prozent. Bei den Ausgaben der privaten Haushalte sind unter anderem Zuzahlungen und Ausgaben für Selbstmedikation erfasst, deren Beitragszahlungen werden den GKV-Ausgaben zugeordnet. uhe

Der Gesundheitsfonds verwaltet seit 2009 die eingehenden Kassenbeiträge, einen Bundeszuschuss (14,5 Milliarden Euro im Jahr 2024) und weitere Einnahmen. Aus dem Fonds erhalten die einzelnen Krankenkassen anteilig Geld je mehr kranke und ältere Mitglieder eine Kasse hat, umso mehr erhält sie aus dem Gesundheitsfonds.

Sowohl der Fonds als auch die Kassen müssen Mindestreserven vorhalten. Der Fonds verfügte am 15. Januar noch über eine Liquiditätsreserve von 5,7 Milliarden Euro. Für das Jahr 2024 wurde allerdings ein Defizit von 3,7 Milliarden Euro berechnet. Dazu trug eine Ausschüttung von 3,1 Milliarden Euro entscheidend bei. Das Ziel: Stabilisierung der die Zusatzbeitragssätze. Zwar waren 2024 auch die Beitragseinnahmen (ohne Zusatzbeiträge) um 5,6 Prozent gestiegen, aber vor allem durch inflationsbedingt hohe Lohnsteigerungen. Die Inflation betrifft aber auf der anderen Seite auch die Personal- und Sachkosten der Leistungserbringer. Die Leistungsausgaben stiegen im vergangenen Jahr um über acht Prozent.

Fazit: Das System der gesetzlichen Krankenversicherung ist durch verschiedene Einflüsse aus der Balance geraten. Bei der Suche nach Lösungen scheint für große Teile des politischen Personals festzustehen, dass es keine Leistungskürzungen geben darf. Die gesetzlichen Krankenversicherungen fordern nun eine Ausgabenpolitik, die den Einnahmen entspricht. Das scheint vernünftig, setzt aber die Politik unter Druck, den Kassen zu den wachsenden Ausgaben auch die entsprechenden Einnahmen zu sichern. Ein Weg wäre die weitere Steigerung der Zusatzbeitragssätze der Kassen – das aber ist politisch immer schwerer zu vermitteln.

Nun hat die neue Gesundheitsministerin Nina Warken (CDU) in einer ihrer ersten Amtshandlungen entschieden, zunächst die Liquiditätsreserve des Gesundheitsfonds vorzeitig aufzufüllen. Die Reserve drohte unter den gesetzlich vorgeschriebenen Mindestwert von 20 Prozent der Monatsausgaben zu fallen. Ein Teil des Bundeszuschusses wurde daher vorgezogen.

Prävention als politisches Stiefkind

Nach EU-Berechnungen wären in Deutschland jährlich 124 000 Sterbefälle vermeidbar, würden alle Möglichkeiten zur Prävention und Gesunderhaltung ausgeschöpft. Die Bundesrepublik liegt mit umgerechnet 157 vermeidbaren Sterbefällen je 100 000 Einwohner und Jahr im europäischen Mittelfeld und auf jeden Fall hinter den skandinavischen Ländern, aber auch hinter den Niederlanden, Frankreich, Italien, Irland, Portugal und Spanien.
Die gesetzlichen Krankenkassen gaben im Jahr 2023 je Versicherten im Schnitt 4126 Euro aus. Für Präventionsmaßnahmen – zur Vermeidung von Erkrankungen im Sinne des Sozialgesetzbuches – gab es aber nur 8,49 Euro. Bei den gesamten GKV-Gesamtausgaben schlägt Prävention mit nur drei Prozent zu Buche.
Mit den übrigen 97 Prozent werden Krankheiten behandelt, von denen ein Teil durchaus zu vermeiden wäre. Laut Krankenkassen könnten etwa 70 Prozent der Herz-Kreislauf-Erkrankungen verhindert werden – durch Prävention und die Verminderung von Risikofaktoren wie ungesunde Ernährung, Bewegungsarmut und hohen Alkoholkonsum.
Bei einer sinnvollen Prävention geht es nicht nur um Kurse, die von den gesetzlichen Krankenkassen kofinanziert werden. Denn mit solchen Angeboten werden vor allem Gruppen erreicht, die ohnehin gut für ihre Gesundheit sorgen und meistens auch über gute ökonomische Ressourcen verfügen.
Prävention heißt auch, den sozialen Kontext von Krankheiten zu berücksichtigen. Das würde bedeuten, etwa die Umweltbelastung besonders verletzlicher Gruppen zu senken, also schon beim Städtebau und -umbau Lärmvermeidung mitzudenken, durch Verkehrsberuhigung für bessere Luft zu sorgen oder genügend kommunale Schwimmbäder und Sportstätten bereitzuhalten. Hier wird deutlich, dass ein solcher Ansatz über die Aufgaben der gesetzlichen Krankenkassen eindeutig hinausgehen würde. uhe

Eine kurzfristige Entlastung der GKV wäre zudem durch die überfällige Minderung von versicherungsfremden Leistungen zu erreichen. Prominentestes Beispiel sind die Sozialversicherungsbeiträge für Bürgergeldbezieher. Die Krankenkassen erhalten den Beitrag als Zuschuss von den Jobcentern, also aus Steuermitteln. Diese Zuschüsse sind aber nicht kostendeckend, bei den Kassen bleibt ein Minus im Vergleich mit den tatsächlichen Ausgaben für die Gruppe von zehn Milliarden Euro pro Jahr. In den letzten vier Jahren hätten sich hier 40 Milliarden Euro angehäuft, beklagen die gesetzlichen Versicherungen.

Immerhin wurde schon zugesagt, dass der bisher der GKV zugeordnete Finanzierungsanteil am Krankenhaus-Transformationsfonds nun aus Mitteln des Sondervermögens Infrastruktur kommen soll. Das bringt ab 2026 immerhin 25 Milliarden Euro über zehn Jahre. Die andere Hälfte, also noch einmal 25 Milliarden Euro, müssen die Bundesländer berappen – und die Gelder sollen nur in Richtung der Kliniken fließen, wenn die Länder tatsächlich zahlen.

Insgesamt schreckt aber auch die neue Bundesregierung davor zurück, die grundlegenden Finanzierungsprobleme grundsätzlich auszuräumen und gründet stattdessen Kommissionen. Eine davon soll das Gesamtsystem einschließlich Neuerungen einschätzen und Maßnahmen vorschlagen. Dafür wird bis Frühjahr 2027 Zeit gegeben.

Gleichzeitig sind zum Ärger der GKV neue zusätzliche Ausgaben durchaus vorgesehen, darunter für ein verbindliches Primärarztsystem und die überfällige Notfall- und Rettungsdienstreform. Den Apothekern wird das Fixum deutlich erhöht, dass sie je eingelöstes Rezept einnehmen. Außerdem sollen die Ausgaben von Ärzten und Krankenhäusern kassenseitig weniger streng überprüft werden. Das Tableau der Vorhaben ist weiterhin darauf ausgerichtet, die einzelnen Akteure möglichst bei Laune zu halten.

Eine weitere Baustelle, die Personalressourcen frisst (und Kosten steigert), sind die bürokratischen Anforderungen in vielen Gesundheitsberufen. Diese dürften nur teilweise mit einer besser funktionierenden Digitalisierung zu bewältigen sein. Der aktuelle Zustand in diesem Bereich trägt eher noch dazu bei, dass insbesondere Pflegekräfte dem Beruf den Rücken zukehren.

Ein weiteres systemisches Problem, das weder die Versorgung verbessert noch die Kosten überschaubar macht, ist das gespaltene Versicherungssystem in GKV und Private Krankenversicherung (PKV). Für die vermeintlich privilegierten PKV-Versicherten bringt der Dualismus die Option einer Überversorgung, die medizinisch nicht indiziert ist, sondern am Ende schadet. Zudem ist die Art der Versicherung für viele Selbstständige mit unsicheren Einkommen spätestens im Alter nicht mehr nachhaltig.

Insbesondere die Linke, aber auch Teile von SPD und Grünen (vor allem, wenn nicht an der jeweiligen Bundesregierung beteiligt) sehen den entscheidenden Lösungsansatz in einer Bürgerversicherung, in die alle Bürger einschließlich Selbstständige und Beamte einzahlen. Ein Zwischenschritt könnte die Anhebung der Beitragsbemessungsgrenze sein, unterstrich kürzlich Linke-Politiker Ates Gürpinar noch einmal. Aktuell ist eine parlamentarische Mehrheit für eine Bürgerversicherung allerdings nicht zu erwarten – unter anderem, weil die PKV-Rücklagen (als Eigentum von deren Versicherten) als unantastbar gelten.

Einen anderen, politisch nicht minder schwierigen Weg aus dem Desaster zeigten kürzlich Wissenschaftler vom Leibniz-Institut für Präventionsforschung auf. Sie bemängelten, dass das deutsche System zu sehr auf Reparaturmedizin und hoch spezialisierte Behandlungen setze – während Prävention ein Nischendasein friste. Lobbys verhinderten wirksame Maßnahmen, wie eine Zuckersteuer, Werbeverbote und Regulierungen bei Tabak oder Alkohol. Es fehle klare Strategie für Public Health. Es gibt also kaum Ansätze, die es den Bürgern einfacher machen würden, gesünder zu leben.

Um das zu ändern, wäre etwa das Ressortdenken in den jeweiligen Regierungen zu überwinden. Auch Ex-Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) fehlte jeglicher Mut, eine eigene Agenda in dieser Sache auch nur vorzuschlagen. Die Kostenspirale im Gesundheitswesen dürfte demnach kaum gestoppt werden, die Versorgung aber ebenso wenig besser werden.

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