Soziale Medien sollen sich verantworten

Oberster Gerichtshof in Brasilien will Konzerne für illegale Inhalte Dritter haftbar machen

Soziale Medien wie X üben in Brasilien einen enormen Einfluss auf die öffentliche Meinung aus.
Soziale Medien wie X üben in Brasilien einen enormen Einfluss auf die öffentliche Meinung aus.

Die Mehrheit der Richter am Obersten Gerichtshof von Brasilien hat ihre Wahl in dem laufenden Verfahren zum »zivilrechtlichen Rahmen für das Internet« getroffen: Soziale Medien sollen für strafbare Posts ihrer Nutzer künftig haften. Bis zum Mittwoch hatten sieben der elf Mitglieder der Kammer ihr Votum abgegeben.

Gegen die Verschärfung der Haftungsregeln stimmte bislang lediglich der Richter André Mendonça. Der frühere Generalstaatsanwalt und Justizminister in dessen Regierung war vom 2022 abgewählten rechtsextremen Präsidenten Jair Bolsonaro zum Mitglied des mächtigen Gerichts ernannt worden. Seine von der Mehrheit abweichende Position begründete Mendonça mit dem Schutz der Meinungsfreiheit. Wie bisher sollten die Plattformen erst dann tätig werden müssen, wenn ein Gericht sie zur Löschung bestimmter Inhalte verpflichtet habe.

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Mendonças Kollegen begründen ihr Vorgehen gegen Konzerne wie X, Meta und Microsoft mit den Schäden der durch Algorithmen verbreiteten illegalen Inhalte für die Gesellschaft, denen vorgebeugt werden müsse.

Brasilien hat in den vergangenen Jahren massive, von rechten Unternehmern geförderte Desinformationskampagnen in Wahlkämpfen erlebt. Die sozialen Medien spielten eine wichtige Rolle bei der Aufwiegelung von Bolsonaro-Anhängern mit unbelegten Vorwürfen einer gestohlenen Wahl, die im Januar 2023 in der Erstürmung und Verwüstung von Regierungsgebäuden in Brasília gegipfelt hatte. Das Verfahren nimmt auch Bezug auf gewaltverherrlichende und jugendgefährdende Inhalte im Zusammenhang mit mehreren Amokläufen an Schulen.

In seiner Stellungnahme kritisierte Alexandre de Moraes scharf die großen Tech-Konzerne. Der Richter sitzt dem parallel laufenden Verfahren gegen Bolsonaro und Mitglieder der früheren Regierung wegen mutmaßlicher Putschpläne nach der Wahl des Linkspolitikers Lula da Silva vor. »Wir müssen uns fragen, ob Big Tech aller Welt, einschließlich Brasilien, sein aggressives und perverses Geschäftsmodell aufzwingen darf, entgegen der Verfassung, entgegen der brasilianischen Gesetzgebung, bloß weil es multinational oder international ist«, betonte Moraes.

Gegenüber Vorwürfen einer Einschränkung der Meinungsfreiheit durch eine stärkere Regulierung der sozialen Netzwerke argumentierte der Richter, dass diese im Netz in Aggressionen umgeschlagen sei. Sie habe sich in eine Praxis ständiger faschistischer und homophober Attacken sowie von »Angriffen auf die Demokratie, Verbrechen gegen Kinder und Jugendliche« verwandelt.

Eine genaue Definition der Online-Inhalte, die künftig als illegal behandelt werden sollen, um den Geist wieder zurück in die Flasche zu zwingen, steht noch aus. Die Betreiber der Online-Dienste kritisieren den angekündigten neuen Rechtsrahmen und die ihnen drohenden Strafen für die Inhalte Dritter. Die Opposition spricht von Zensur, Unterstützung erhält sie von der Trump-Regierung in den USA. Andere politische Stimmen in Brasilien warnen vor einer Überregulierung. Im konservativ beherrschten Kongress wird das Projekt auf erheblichen Widerstand stoßen.

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