Apocalypse now in Gaza-Stadt

Israelische Armee startet Bodenoffensive ohne Rücksicht auf Verluste

  • MIrco Keilberth
  • Lesedauer: 3 Min.
Die israelische Armee bereitet sich auf die Bodenoffensive in Gaza-Stadt vor – auch mit Gebeten.
Die israelische Armee bereitet sich auf die Bodenoffensive in Gaza-Stadt vor – auch mit Gebeten.

»Wir sind nach tagelangem Terror durch Drohnen, Artillerie und Scharfschützen in den Westen der Stadt geflohen«, sagt der Ingenieur Mohammad Hetwisch dem »nd«, »in der Hoffnung, dass die Weltgemeinschaft eine Zerstörung dieses riesigen Flüchtlingslagers im letzten Moment verhindert. Doch letzte Nacht musste ich mit meinen Kindern und meiner Frau, mit dem, was ich am Leibe trage, aus dem Haus von Verwandten fliehen. Wir wissen nicht einmal, wie wir nach Süden gelangen sollen, überall gibt es Explosionen«, so der 45-Jährige am Telefon. Journalisten berichten von apokalyptischen Szenen und panisch durch die Straßen von Gaza-Stadt irrenden Menschen.

Mit dem Einmarsch israelischer Panzer hat in der Nacht auf Dienstag die angekündigte Bodenoffensive auf Gaza-Stadt begonnen. Mit wahllosen Bombardierungen sollen eine Million Bewohner zur Flucht in weiter südlich gelegene Gebiete gezwungen werden. Die östlichen Stadtteile sind bereits durch wochenlangen Beschuss menschenleer.

Vier von fünf Tatbestände für Völkermord sind erfüllt

Der internationale Druck auf Israel steigt derweil. Nach dem Angriff auf ein Hamas-Treffen mit sechs Toten in Doha am vergangenen Dienstag, bei dem über einen US-Vorschlag über einen Waffenstillstand diskutiert wurde, beschlossen Vertreter aus 79 arabischen und muslimischen Staaten, künftig enger zu kooperieren. »Israels Staatsterrorismus muss von der internationalen Staatengemeinschaft in die Schranken gewiesen werden«, forderte der Gastgeber der Solidaritätskonferenz, Katars Premierminister Mohammad Al-Thani.

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Eine von der UN eingesetzte Untersuchungskommission sieht in dem israelischen Vorgehen vier von fünf Tatbeständen der 1948 verabschiedeten Völkermordkonvention erfüllt. Der Bericht des Menschenrechtsrates beschreibt im Detail die Blockade der humanitären Hilfe, die Zerstörung der Gesundheits- und Bildungseinrichtungen und die Vertreibung der Bevölkerung. Direkte und indirekte Indizienbeweise würden den Vorsatz zur Begehung eines Völkermords belegen.

Israel erkennt wie die USA den Menschenrechtsrat nicht an. Israels Botschafter in der Schweiz, Daniel Meron, bezeichnete den erstmals durch einen Bericht der Vereinten Nationen geäußerten Völkermordvorwurf als skandalös. Der Krieg könne in 48 Stunden beendet sein, sobald die Hamas die Geiseln frei ließe, so Meron. Doch der Mordversuch an dem Verhandlungsteam der Hamas in Doha und die offenbar geplante Zerstörung einer Millionenstadt sprechen eine andere Sprache. Israels Premier Benjamin Netanjahu spricht ganz offen über die Zerstörung der Hamas, ein Ziel, das Armeechef Eyal Zamir vor einer Parlamentskommission Anfang des Monats für undurchführbar erklärte.

Guerilla-Angriffe der Hamas

Die Guerilla-Angriffe kleiner Hamas-Einheiten forderten bereits Dutzende Opfer unter den israelischen Soldaten und die Zahlen dürften in den nächsten Tagen steigen. Das Treffen der arabischen und muslimischen Länder in Doha ist ein Paradigmenwechsel in den Beziehungen zur aktuellen israelischen Regierung. Die Hoffnung auf eine Deeskalation der Situation durch bilaterale Abkommen ist verschwunden. Auch die Sicherheitspartnerschaft mit den USA steht nun auf dem Prüfstand. US-Außenminister Marco Rubio war statt nach Doha, wo die größte US-Militärbasis im Nahen Osten steht, zuerst nach Jerusalem gereist. Ein eindeutiges Zeichen, dass man Netanjahu trotz dessen offener Ankündigung der ethnischen Säuberung des Gazastreifens als wichtigeren Partner sieht.

Marco Rubio scheint sogar trotz der Empörung unter den arabischen Nachbarstaaten über das rücksichtslose israelische Vorgehen ganz auf den Kurs Netanjahus Kurs eingeschwenkt zu sein. Er bezweifle, dass eine diplomatische Lösung in Gaza noch möglich sei. Dass Israel diese mit der Zerstörung von Gaza-Stadt und dem Angriff in Doha selbst verhindert hat, verschwieg er. Die Hamas hatte in der Vorwoche einen von US-Vermittler Steve Witkoff vorgestellten Waffenstillstand akzeptiert. »Zuerst forderten Flugblätter uns auf zu fliehen, jetzt die unerbittlichen Bombardierungen mit tausenden Toten«, schreit Mohammad Hetwisch ins Telefon. »Das tatsächliche Ziel ist die Vertreibung von uns allen aus Gaza.« Genauso steht es bereits im Bericht der UN-Menschenrechtskommission.

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