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Energiewende: Wo auf drei Menschen ein Windrad kommt
Besuch im ersten und einzigen energieautarken Dorf Deutschlands in Brandenburg
Es ist gerade kalt und verregnet an diesem Tag im brandenburgischen Feldheim. Die zur Stadt Treuenbrietzen gehörende Ortschaft südwestlich von Berlin ist von Windrädern umgeben. Doch heute sieht man am Ende von weitläufigen Feldern nur deren Masten im Nebel verschwinden. Ob weiter oben genug Wind weht, damit die Rotorblätter sich drehen, lässt sich nur vermuten. Die drei Solarmodule, die am Feldrand stehen, erzeugen bei dem gerade bewölkten Himmel sicherlich keinen Strom.
Doch Borris Philipp versichert: »Wir hatten auch schon richtig schönes Wetter in diesem Jahr.« Philipp ist Bildungsreferent des Neue-Energien-Forums (NEF) Feldheim. Dieser Förderverein organisiert Führungen, Schulprojekte und Veranstaltungen im Ort und holt mit dem vereinseigenen Elektroauto auch mal Journalist*innen vom Bahnhof ab. Obwohl das Dorf nur 137 Einwohnende zählt, zieht es Gäste und Medien von überallher an. Denn Feldheim ist der erste und bislang einzige energieautarke Ort Deutschlands. Es produziert nicht nur Strom und Wärme aus erneuerbaren Quellen für alle 35 Haushalte sowie die ansässige Landwirtschaft. Für den ortseigenen Energiebedarf von etwa einer Million Kilowattstunden im Jahr würde ein einziges Windrad reichen. Mit seinen 50 Windenergieanlagen, dem nahe gelegenen Solarpark Selterhof und der eigenen Biogasanlage speist Feldheim zusätzlich rund 200 Millionen Kilowattstunden pro Jahr ins Stromnetz ein. Die Windkraft allein, die 97 Prozent der Energie erzeugt, kann rund 40 000 Haushalte versorgen.
Die ersten vier Windräder wurden 1995 von Michael Raschemann aus Zossen errichtet. Seine Frau Doreen ist heute NEF-Vorsitzende und erzählt, wie begeistert ihr Mann, der damals Bauingenieurwesen studierte, von der Windkraft war. »Wir sind durch die Umgebung gefahren und haben geschaut, wo früher alte Kornmühlen standen.« Die sind ein Indiz für gute Windbedingungen, und diese waren in dem auf einem Hochplateau gelegenen Feldheim optimal. Also beantragte Michael Raschemann eine Genehmigung für die Windräder, und 1997 gründete das Ehepaar die Energiequelle GmbH.
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Bis zur Selbstversorgung mit Strom und Wärme vergingen jedoch noch fast 15 weitere Jahre. 2008 suchte die Feldheimer Agrargenossenschaft nach einem zweiten Standbein neben der Landwirtschaft. Die Idee, Biomasse vom eigenen Hof für eine Biogasanlage zu nutzen, mündete in dem Plan, mit der Abwärme einer solchen Anlage gleich den ganzen Ort zu heizen. Feldheim baute also ein eigenes Nahwärmenetz und verlegte in diesem Zuge auch Stromleitungen. Seit 2010 gilt das Dorf als energieautark.
Die Biogasanlage besteht aus zwei Fermentern – riesigen runden, weißen Behältnissen, die zwischen Dorf und Äckern stehen. Darin werden Gülle, Mais und Getreideschrot mit Wasser von Methanbakterien zersetzt. Dabei entsteht Biogas. Im benachbarten Blockheizkraftwerk – einem Gebäude voller dicker Rohre, Kabel und Kessel – wird mit dem Gas Wärme erzeugt. Abfallprodukt der Fermentation ist ein Dünger, der im Gegensatz zu normaler Gülle nicht stinkt, wie Borris Philipp sagt. Weil in dem Prozess CO2 entsteht, ist Biogas genau genommen nicht klimaneutral. Es gilt jedoch als klimaneutral, weil nur so viel CO2 freigesetzt wird, wie die verwendeten Pflanzen zuvor gebunden haben und wie sie auch in natürlichen Prozessen wieder an die Atmosphäre abgeben würden.
Ähnlich verhält es sich mit der Holzhackschnitzel-Heizung, die an kalten Tagen zusätzlich läuft und mit 12 Prozent zur Feldheimer Wärme beiträgt. Jährlich werden rund 490 Schüttraum-Meter Kieferhackschnitzel verbrannt, die komplett aus den umliegenden Wäldern stammen. Es handele sich um Reste, »die beim Durchforsten übrig bleiben«, versichert Phillip. Es werde dafür kein Baum gefällt.
Dennoch setzt die Verbrennung viel CO2 auf einmal frei, wofür ein im Wald verrottender Baum Jahrzehnte brauchen würde. »Das ist nicht gut, aber immer noch besser als fossiles Gas«, sagt Philipp mit Verweis auf Kohle- und Erdgaskraftwerke, die vor mehreren Millionen Jahren gebundene Treibhausgase auf einen Schlag in die Luft pusten. Dennoch betrachtet Philipp Biogas und Biomasse als Brückentechnologien, die in Zukunft zum Beispiel durch Wärmepumpen ersetzt werden sollten. Hinter dem Blockheizkraftwerk befindet sich noch ein Regelkraftwerk. »Das ist im Grunde ein großer Akku«, erläutert Philipp. Die Lithium-Ionen-Speicheranlage gleicht kurzfristige Schwankungen der Netzfrequenz aus und war bei ihrer Inbetriebnahme 2015 eine der größten ihrer Art.
Voraussetzung für den Bau all dieser Anlagen waren Einverständnis und Mitarbeit des ganzen Dorfes. Fast alle Haushalte beteiligten sich mit 3000 Euro Eigenkapital an dem 1,7 Millionen Euro teuren Wärmenetz, das ansonsten mit Fördergeldern des Landes Brandenburg und der EU finanziert wurde. Die meisten Heizungen mussten zu diesem Zeitpunkt ohnehin ausgetauscht werden, und auf lange Sicht habe sich die Investition definitiv gelohnt, erklärt Philipp.
Er holt eine Grafik hervor, die die Entwicklung der Strompreise von 2013 bis 2023 zeigt. Während der durchschnittliche Marktpreis bis 2021 bei rund 30 Cent pro Kilowattstunde lag und dann mit dem Krieg in der Ukraine rapide anstieg, betrug der Feldheimer Strompreis nur die Hälfte. Erst 2021 stieg dieser Preis moderat, weil eine festgelegte Preisbindung auslief – und sank dann wieder auf aktuell 11,3 Cent pro Kilowattstunde. »So sieht ein Strompreis aus, der auf lokalen Beziehungen beruht und vom fossilen Weltmarkt unabhängig ist«, verdeutlicht Philipp. In Orten ohne eigenes Stromnetz zahlt man aktuell mehr als das Doppelte.
»Es kann nicht das Ziel sein, dass jedes Dorf sein eigenes Netz hat.«
Bernd Hirschl Wirtschaftsingenieur
Bernd Hirschl, Professor für regionales Energieversorgungsmanagement an der Technischen Universität Cottbus-Senftenberg und Forschungsfeldleiter am Institut für ökologische Wirtschaftsforschung in Berlin, begrüßt das deutschlandweit einzigartige Feldheimer Modell. Er wirft jedoch auch einen kritischen Blick auf den Bau eines eigenen Stromnetzes. Zwar ist das Feldheimer Netz mittlerweile über ein Umspannwerk ans öffentliche Netz angeschlossen. Dennoch stellt es eine technische Parallelstruktur dar, durch die vor Ort der Stromnetzbetreiber Edis umgangen wird. »Es kann nicht das Ziel sein, dass jedes Dorf sein eigenes Netz hat«, sagt Hirschl. Volkswirtschaftlich sei das »totaler Unsinn« und »hochgradig ineffizient«. Ziel müsse sein, das öffentliche Stromnetz so nutzen zu können, dass regional erzeugte Energie auch günstig und möglichst direkt vor Ort verbraucht werden kann. Dafür seien aber die politischen und wirtschaftlichen Bedingungen nicht gegeben.
Da es Zeiten gibt, in denen weder die Sonne scheint noch der Wind weht, gebe es in einem dezentralen, klimaneutralen Stromnetz viel mehr Engpässe zu verwalten oder auch mal Überschüsse auszugleichen, erklärt Hirschl. Die Ökostromversorger passen mit den noch immer vorherrschenden Marktmechanismen einer fossilen Stromversorgung nicht zusammen. Es seien Gesetzesänderungen auf Bundesebene notwendig und geringere Abgaben, damit regionaler Ökostrom – wenn dieser systemdienlich am Markt platziert wird – künftig der günstigste ist und folglich zum Massenprodukt wird, meint Hirschl. Damit wäre dem Klima mehr geholfen als mit einer Sonderlösung wie in Feldheim.
Letztlich gebe es nicht das eine Patentrezept, sondern es brauche »einen Blumenstrauß an regionalen Geschäftsmodellen« wie Regionalstromtarife von Stadtwerken und lokale Energiegenossenschaften. Die größte Herausforderung seien ohnehin nicht die Dörfer, sondern die Großstädte, die keinen Platz für Windräder haben und wo viel mehr Menschen zu versorgen sind.
Dieser Text erschien erstmals in dem Magazin »Sonnenenergie«.
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