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Aktionstag gegen Polizeigewalt: Keine Einzelfälle
Bundesweiter Aktionstag gegen Polizeigewalt thematisiert strukturelle Gewalt innerhalb der Behörde
30 Grad, Flimmern auf dem Berliner Beton. Die Hauptstadt ist auffallend leer am letzten Wochenende im Juni. Wer kann, ist zur Fusion gefahren oder sucht Schatten im Grünen. Doch am Kottbusser Tor trotzen 300 Menschen der Mittagshitze. Sie sind nicht wegen der Sonne hier – sondern trotzdem. »Who’s streets?«, ruft ein Redner auf der Bühne in Kreuzberg. »Our streets!« hallt es durch die Adalbertstraße.
Die Demonstrant*innen sind dem Aufruf zum bundesweiten Aktionstags gegen rassistische Polizeigewalt gefolgt. Das Bündnis für Gerechtigkeit für Lorenz hatte dazu aufgerufen. Die Aktion findet in zehn Städten statt, darunter Hamburg, Frankfurt am Main und Oldenburg. Fünfmal schoss die Polizei von hinten auf Lorenz A. Drei Kugeln trafen den 21-Jährigen tödlich – eine davon im Kopf. Er starb am 20. April dieses Jahres. Eine Tonaufnahme zum Aktionstag aus Oldenburg wird am Anfang der Kundgebung abgespielt: »Was wäre, wenn Lorenz ein weißer Mann gewesen wäre? Hätte man dann geschossen?«, heißt es darin.
Systematische Gewalt
»Der Aktionstag setzt ein klares Zeichen gegen die weit verbreitete Erzählung, bei tödlicher Polizeigewalt handle es sich um tragische ›Einzelfälle‹«, teilt das Bündnis mit. Der Tod von Lorenz reihe sich in eine lange Liste von tödlicher Polizeigewalt ein, so der Aufruf. Auf der Kundgebung in Berlin sind ihre Namen auf Schildern zu lesen, die die Demonstrant*innen mitgebacht haben: Sie heißen Oury Jalloh, Hussam Fadl Hossein, Achidi John, Ferhat Mayouf, Vitali Novacov.
Die Zahl der durch die Polizei verursachten Todesfälle hat in den vergangenen Jahren stark zugenommen. Die Zeitschrift für »Bürgerrechte & Polizei/Cilip« zählt 22 Fälle im Jahr 2024 und bereits 14 in diesem Jahr – ein Höchststand seit Beginn der Zählung im Jahr 1976.
Polizeigewalt treffe, so das Bündnis, insbesondere »Schwarze Menschen, People of Color, Geflüchtete, psychisch erkrankte Menschen und Menschen, die von Armut betroffen sind«. Deshalb fordert der Zusammenschluss von antirassistischen Gruppen eine »tiefgreifende Auseinandersetzung mit der strukturellen und rassistischen Dimension von Polizeigewalt in der Praxis, in den Behörden, im Diskurs«.
Nicht nur der tödliche Schuss auf einen Menschen, eine Kniefixierung mit tödlichen Folgen oder unaufgeklärte Brände in Gefangenenzellen – Polizeigewalt äußere sich in diversen Formen, so ein Sprecher auf der Bühne. Als Beispiel nennt er rechte Chatgruppen innerhalb der Behörde, Bodycams von Beamten, die in entscheidenden Situationen ausgeschaltet sind, und in Asservatenkammern verschwundene Schusswaffen. »Und immer heißt es ›nicht jeder‹«, sagt er in Bezug auf Äußerungen von Polizei und Politik, die Fälle würde sich nur auf einzelne Beamte beziehen.
Er spricht zudem von den »Blicken auf der Suche nach Abweichungen in Gefahrenzonen«. Gemeint sind wohl Beamte, die verdachtsunabhängig kontrollieren dürfen. Das Kottbusser Tor ist seit 1996 ein kriminalitätsbelasteter Ort (kbO), an dem die Berliner Polizei besondere Befugnisse hat. Dazu gehört, dass sie anlasslos kontrollieren darf – eine Praxis, die in der Kritik steht, weil überproportional nicht-weiße Menschen von den Kontrollen betroffen sind.
Berliner Polizei erhält mehr Befugnisse
In Berlin wird voraussichtlich am 10. Juli das Allgemeine Sicherheits- und Ordnungsgesetz (Asog) verschärft. Damit wird die Landesregierung der Polizei mehr Befugnignisse einräumen: So soll es an den sieben Berliner kbOs dauerhafte Videoüberwachung mit künstlicher Intelligenz (KI) geben. Ferner soll die Polizei mehr Rechte bei Bodycam- und Schusswaffeneinsätzen erhalten. Erstmals soll in der Asog-Novelle zudem der »finalen Rettungsschuss« verankert werden. Bei »Gefahr für Leib und Leben« darf die Polizei rechtmäßig Menschen erschießen.
Tahir Della, ein Sprecher des Bündnisses für Gerechtigkeit für Lorenz, plädiert hingegen dafür, dass die Landesregierung die Befugnisse für die Polizei abbaut und die Sicherheitsbehörden abrüstet, wie er »nd« sagt. »Auch den sogenannten finalen Rettungsschuss lehnen wir ab«, sagt Della. Denn dieser überlasse dem einzelnen Beamten die Entscheidung über Leben und Tod.
Die geplante Asog-Novelle beschreibe laut Della die immer wiederkehrende Antwort der politisch Verantwortlichen auf Herausforderungen im Sicherheitsbereich: »Einerseits werden der Polizei immer mehr Befugnisse und erweiterte Handlungsspielräume zugesprochen, andererseits kommt es immer wieder zu exzessiver Gewalt gegen Menschen durch die Polizei, aber auch durch private Sicherheitsdienste.«
Eine Anfrage an die Berliner Polizei, ob es sich angesichts der hohen Zahl an Polizeitoten um »Einzelfälle« handle und inwiefern Rassismus Polizeigewalt befördere, wollte die Behörde mit Hinweis auf die fehlende Zuständigkeit als Landesbehörde nicht beantworten. Die zum Aktionstag aufrufenden Gruppen weisen darauf hin, dass laut Statistiken des Kriminologen Tobias Singelstein mehr als 90 Pozent der Ermittlungen zu tödlicher Polizeigewalt eingestellt werden – in nur zwei Prozent der Fälle kommt es überhaupt zu einer Anklage vor Gericht.
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