Schwarz-Rot will Berliner Mindestlohn von der Politik befreien

Koalition bringt Antrag zur Reform des Landesmindestlohngesetzes ins Abgeordnetenhaus ein

Laut einer Analyse des Pestel-Instituts würden in Berlin 350 000 Beschäftigte von einer Anhebung des Mindestlohns auf 15 Euro profitieren.
Laut einer Analyse des Pestel-Instituts würden in Berlin 350 000 Beschäftigte von einer Anhebung des Mindestlohns auf 15 Euro profitieren.

Deutschland diskutiert wieder über Verteilungsfragen. Angesichts anhaltender wirtschaftlicher Schwäche und einer Priorisierung von Staatsausgaben für die Verteidigung bangen viele zivile Wirtschaftsunternehmen um ihre Existenz. Gleichzeitig befürchten Lohnabhängige, die Krise schultern zu müssen.

Entsprechend groß waren auch der Wirbel und die Erwartungen, als Ende Juni die Mindestlohnkommission über die Anpassung des bundesweiten Mindestlohns entschied. Ab 2026 sollen keine Beschäftigten in Deutschland weniger als 13,90 Euro brutto pro Stunde verdienen, ab 2027 nicht weniger als 14,60 Euro, entschied das Gremium. Mitglieder der Mindestlohnkommission hatten hinterher den Druck auf sie angemahnt und insbesondere in Richtung Politik darauf gepocht, die Unabhängigkeit des Gremiums anzuerkennen. Derzeit liegt der Mindestlohn bei 12,82 Euro.

Das Land Berlin schätzt die Lebensbedingungen in der Hauptstadt als deutlich schwieriger ein. »In einer Stadt wie Berlin reicht selbst der neue bundesweite Mindestlohn für viele nicht zum Leben«, erklärt Arbeitssenatorin Cansel Kiziltepe (SPD) gegenüber »nd«, »deshalb setzen wir auf einen höheren Landesmindestlohn«. Unternehmen, die Aufträge vom Land übernehmen, müssen ihren Beschäftigten demnach aktuell 13,69 Euro brutto pro Stunde bezahlen.

Die schwarz-rote Koalition will die Entwicklung des Landesmindestlohns an die des bundesweiten Mindestlohns koppeln. Für dieses Koalitionsvorhaben wird sie am Donnerstag einen entsprechenden Antrag ins Abgeordnetenhaus einbringen, der auch von Senatorin Kiziltepe unterstützt wird. Ab 2026 müsste es in Berlin 14,84 Euro, ab 2027 dann 15,59 Euro geben.

»Das ist ein großer Wurf, das ist echte Sozialpolitik«, lobt der Abgeordnete Martin Pätzold, Sprecher der CDU-Fraktion im Abgeordnetenhaus für Arbeitspolitik, den Antrag seiner Koalition. Mit der Reform würde die Erhöhung des Mindestlohns automatisiert. »Das schafft Klarheit und Transparenz«, sagt Pätzold. Bisher sah das Landesmindestlohngesetz vor, dass Erhöhungen gemäß der durchschnittlichen Entwicklungen des Tarifindex des Statistischen Bundesamtes erfolgen. Das »hat sich als nicht hinreichend praxistauglich erwiesen«, schreibt die Koalition in ihrem Antrag.

Da der Tarifindex eine Rückbetrachtung sei, ließe sich vor allem in »Zeiten sehr starker Preissteigerungen« eine Mindestlohnerhöhung »nicht zeitnah genug abbilden«. Zudem würden die zuletzt immer häufiger gewährten tariflichen Einmalzahlungen wie Corona-Prämien und Inflationsausgleichszahlungen sich nicht dauerhaft in den Tarif-Löhnen und damit auch nicht im Tarif-Index niederschlagen.

Der CDU-Politiker Pätzold nennt noch einen weiteren Punkt: »Wir nehmen die Frage, wie sehr der Landesmindestlohn erhöht werden soll, aus den politischen Debatten heraus.« Die Gesetzesänderung kontrastiere so die Politik der Vorgängerregierungen, in denen die Frage der Erhöhung zu Streit geführt habe. »Dadurch kam es zu Verzögerungen bei der Erhöhung, phasenweise wurde der Mindestlohn gar nicht angepasst«, sagt Pätzold. Bereits die nächste Anpassung werde anhand des neuen Mechanismus erfolgen, ist er sich sicher.

Die oppositionellen Grünen haben vom Prinzip her nichts gegen den Ansatz der Gesetzesnovelle. »Der bisher auf Landesebene festgelegte Rahmen zur Erhöhung per Rechtsverordnung ist mangelhaft, da gebe ich der Koalition recht«, sagt Christoph Wapler und meint damit die Kopplung an den Tarifindex. Eine Bindung an den Mindestlohn würde laut dem Grünen-Politiker allerdings derzeit keine Verbesserung bringen: Dortige Anpassungen an nachlaufende Statistiken würden nicht ausreichen. Es müssten Prognosen der Lohnentwicklung und der Inflation mit einbezogen werden, sagt Wapler.

»Berlin würde sich abhängig machen von einer Regelung, die Mindestlöhne, die nicht vor Armut schützen, hervorbringt.«

Christoph Wapler Grünen-Abgeordneter

So wie er jetzt gestaltet sei, würde der bundesweite Mindestlohn zu wenig vor Armut schützen, erklärt Wapler. Die jüngste Erhöhung verfehle die Anforderungen der EU-Mindestlohnrichtlinie. Menschen, die weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens (Median) zur Verfügung haben, gelten der EU zufolge als arm. Die Richtlinie schreibt den Mitgliedstaaten Maßnahmen zur Bekämpfung von Armut vor. Einer ihrer Vorschläge: nationale Mindestlöhne in Höhe von 60 Prozent des mittleren Einkommens. Laut einer Berechnung der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung aus dem vergangenen Jahr entspräche das in diesem Jahr einem Mindestlohn von über 15 Euro.

Berlin würde sich deshalb abhängig machen von einer Regelung, die Mindestlöhne, die nicht vor Armut schützen, hervorbringt, schlussfolgert Christoph Wapler. Und, sagt der Sprecher für Arbeit der Grünen-Fraktion, »es muss verhindert werden, dass sich in Pattsituationen die Arbeitgeberseite in dem Gremium durchsetzt«. 2023 hatte sich die Vorsitzende der zu gleichen Teilen von Vertreter*innen von Arbeitnehmer*innen und Arbeitgeber*innen besetzten Mindestlohnkommission in einer Abstimmung entscheidend auf die Seite der Arbeitgeber*innen geschlagen.

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Eine Kopplung an die Bundesregelung sei mit den von ihm genannten Änderungen denkbar, sagt Wapler. »Solange die Regelung zum bundesweiten Mindestlohn ungenügend ist, kann auch das Abgeordnetenhaus über die Erhöhung entscheiden, so wie wir es auch unter Rot-Grün-Rot zu Recht getan haben«, spielt er den Ball zurück zur Politik.

Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB), der mit einem Vertreter in der Mindestlohnkommission sitzt, sieht eine Abkehr von der Anbindung des Landesmindestlohns an die Tarifverträge skeptisch. Wie die Vorsitzende des DGB Berlin-Brandenburg mitteilt, müsste der Landesmindestlohn »vielmehr an die Tarifverträge des öffentlichen Dienstes als an die allerunterste Haltelinie, den gesetzlichen Mindestlohn«, gekoppelt werden.

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