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Dissidenten in Deutschland: »Du hörst auf zu schreiben!«
Wie autoritäre Staaten Dissidenten in Deutschland verfolgen
Der Mord geschah mitten am Tag an einem belebten Ort. Selimchan Changoschwili wurde am 23. August 2019 im Kleinen Tiergarten in Berlin mit drei Pistolenschüssen ermordet. Er gehörte der tschetschenischen Minderheit in Georgien an und hatte in den Tschetschenienkriegen bis 2009 in hohen militärischen Rängen gegen Russland gekämpft.
Nur wenige Minuten nach der Tat konnte der Mörder Wadim Krassikow in Tatortnähe gestellt werden. Krassikow war ein russischer Agent. Das Berliner Kammergericht sprach später von einem Auftragsmord durch den russischen Geheimdienst und verurteilte Krassikow zu lebenslanger Haft. Davon musste er aber nicht viel verbüßen. Im Rahmen eines Gefangenenaustausches kam er 2024 vorzeitig aus der Haft frei. Das offizielle Moskau empfing ihn als Helden. Das war auch ein Signal an alle Regimekritiker: Nirgendwo sollen sie sicher sein.
Alltägliche Einschüchterung
Solche Morde kommen zum Glück nicht oft vor, doch die alltägliche Bedrohungslage ist groß. Einschüchterungen und körperliche Attacken gegenüber Journalisten, Exilpolitikern und geflohenen Menschenrechtlern durch die Geheimdienste ihrer Herkunftsländer gehören für viele Menschen zur Normalität. Politische Gegner sollen entmutigt, kritische Stimmen zum Schweigen gebracht werden.
Als die investigativ arbeitende ägyptische Journalistin Basma Mostafa 2021 nach Berlin kam, wähnte sie sich in Sicherheit. Hinter ihr lagen drei Haftstrafen, weil sie als Journalistin über Missstände berichtet hatte. So hatte sie über einen Mord an einem italienischen Studenten durch ägyptische Sicherheitskräfte geschrieben. Hinter ihr lag eine jahrelange Flucht durch unsichere Staaten, bis sie schließlich in Europa Schutz fand. Ein Trugschluss. Als sie an einem internationalen Kongress in Genf teilnahm, drohte ihr ein Ägypter unverhohlen: »Ich kenne Sie. Sie sind Ägypterin, und ich bin Polizist und kann Sie sofort verhaften.« Der Wortlaut ist nachzulesen im Protokoll einer parlamentarischen Zusammenkunft 2023 im Deutschen Bundestag. Interessierte Bundestagsabgeordnete verschiedener Fraktionen tauschten sich in diesem Rahmen auch im folgenden Jahr ein weiteres Mal mit Verfolgten über das Thema transnationale Repression aus – also die Verfolgung von Menschen über Staatsgrenzen hinweg.
Zu den Teilnehmern gehörte auch die chinesische Journalistin Su Yutong, deren Schicksal exemplarisch für die Reichweite transnationaler Verfolgung steht. Sie floh 2010 nach Deutschland, nachdem sie in China Tagebücher des ehemaligen Ministerpräsidenten Li Peng, dem Hauptverantwortlichen für das Massaker auf dem Platz des Himmlischen Friedens 1989, verbreitet hatte. Das Buch ist bis heute in ihrer Heimat verboten.
Doch auch in Deutschland, von wo aus sie weiter ihre Stimme gegen Menschenrechtsverletzungen in China erhob, verfolgte sie die autoritäre Staatsmacht Chinas. Und das mit einer perfiden Methode: Ihre Adresse und ihre Fotos wurden auf Sex-Dating-Seiten veröffentlicht, sodass ständig fremde Männer an ihrer Tür klingelten, die Sex mit ihr wollten, erzählte Su den Abgeordneten.
Über Whatsapp und soziale Medien wurde sie bedroht, auf Demonstrationen gegen die chinesische Regierung fotografiert und eingeschüchtert. Unter ihren Daten buchten Unbekannte weltweit Hotelzimmer und das auf eine Art, dass Geheimdienste sie mit Bombendrohungen gegen ein Hotel in Verbindung brachten. Deshalb ermittelte sogar die Polizei gegen die vermeintliche Bombenlegerin. Heute wird Su Yutong von der Polizei beschützt, die ihr auch zum Umzug geraten hatte. Ihre neue Wohnadresse ist nunmehr geheim.
Ein weiterer Gast im Bundestag war der türkische Journalist Erk Acarer, der 2021 im Innenhof seines Berliner Wohnhauses von drei Männern überfallen und zusammengeschlagen worden war. Einer habe auf Türkisch gerufen: »Du hörst auf zu Schreiben.« Die Männer konnte er faschistischen Kräften aus der Türkei zuordnen. Seiner Meinung nach reiche der lange Arm der autoritären türkischen Führung bis in die Berliner Hinterhöfe.
Journalisten im Visier
Diese Fälle sind symptomatisch: Der Nichtregierungsorganisation Freedom House zufolge sollen mindestens zwölf ausländische Regierungen in den vergangenen zehn Jahren eigene Staatsangehörige auf deutschem Boden verfolgt haben. Dazu zählen China, Russland, Belarus, Ägypten, die Türkei, Vietnam, der Iran und Aserbaidschan. Die Dunkelziffer dürfte weitaus höher sein, schließlich hat die Organisation nur öffentlich bekannte Vorfälle, wie den Tiergartenmord oder die Entführung des abtrünnigen vietnamesischen Funktionärs Trinh Xuan Thanh aus dem Berliner Exil in ein Hanoier Gefängnis 2017 erfasst.
Oft betrifft die transnationale Verfolgung Journalisten. Vier der fünf Gäste bei der ersten parlamentarischen Zusammenkunft 2023 arbeiten in der Medienbranche. 2024 gab es zwei Gäste, beide Pressevertreter. Dies erklärt sich zum einen durch die besondere Bedrohung, die Exiljournalisten für autoritäre Staaten darstellen, zum anderen durch ihre größeren Möglichkeiten, ihr Schicksal öffentlich zu machen.
Viele andere Betroffene fügen sich dem Druck der Herrschaftssysteme. Das trifft beispielsweise auf Oppositionelle aus dem Iran oder aus Eritrea zu, die hierzulande auch von regimetreuen Landsleuten attackiert werden. Auf den Eritrea-Festivals, die von Regierungsanhängern veranstaltet werden und vor allem Devisen einbringen sollen, kam es mehrmals zu Auseinandersetzungen mit Oppositionellen. Teilweise kam es zu gewalttätigen Protesten, was wiederum die deutschen Ermittlungsbehörden auf den Plan rief.
Im Frühjahr gab es eine Razzia in mehreren Bundesländern gegen die gewalttätige oppositionelle Gruppierung Brigade N’Hamedu, die die Bundesanwaltschaft als terroristische Vereinigung einstuft. Dabei gab es allerdings auch Polizeirazzien bei mehreren eritreischen Frauen über 60 Jahren, die Gegenveranstaltungen zu Feiern des eritreischen Regimes angemeldet hatten und friedlich demonstrierten. Das Vorgehen der Polizei hat die Opposition offenbar nachhaltig eingeschüchtert. »Seitdem trauen sich Eritreer nicht mehr, gegen Regierungsveranstaltungen auf deutschem Boden zu protestieren«, erzählt der Videojournalist Joachim Schäfer dem »nd«.
Eritrea ist einer der Staaten mit den schwerwiegendsten Menschenrechtsverletzungen weltweit. Mit der Volljährigkeit werden Menschen in einen Zwangs- und Militärdienst gepresst, der laut den Vereinten Nationen alle Definitionen von Sklaverei erfüllt, mit Ausnahme des Kaufs und Verkaufs der Sklaven. Männer müssen den Zwangs- und Militärdienst nicht selten bis zum Ende ihrer Arbeitsfähigkeit leisten, Frauen bis zur ersten Schwangerschaft.
»Seit es keine eritreischen Gegendemonstranten mehr gibt, wurde ich als deutscher Journalist zweimal von Security-Leuten der Regierungsveranstaltungen in Hessen angegriffen«, sagt Schäfer. »Kritische Stimmen wollen sie offenbar tot machen.« Einmal sei ein Mann mit seinem Auto auf ihn zugefahren, als er gerade filmte, Schäfer konnte noch ausweichen.
Anders als die eritreische Opposition haben die im Bundestag geladenen Journalisten eher positivere Erfahrungen mit der Polizei gemacht. Mehrere von ihnen stehen unter Personenschutz und sind dankbar dafür. Kritik äußern sie aber, weil das Thema in der Politik und in öffentlichen Debatten kaum vorkommt. Dabei könnte sie öffentliche Aufmerksamkeit sogar schützen.
Die Verfolgten fordern zudem, dass das perfide Vorgehen der ausländischen Regimekräfte bei Treffen mit Politikern ihrer Herkunftsstaaten thematisiert werde. Außerdem sollte die Bundesregierung mehr Sorgfalt bei der Zulassung von Diplomaten aus autoritären Staaten walten lassen. Denn oft würden gerade diese für Geheimdienste arbeiten und Repressionen steuern. So waren an der Entführung des Vietnamesen Trinh Xuan Thanh 2017 sechs vietnamesische Diplomaten beteiligt, die ihn in die Slowakei verschleppten und von dort aus nach Vietnam ausflogen, wo er noch immer inhaftiert ist. Die Entführer wechselten mehrfach das Fahrzeug, um Spuren zu verwischen. Ein Diplomatenfahrzeug schützte zudem vor möglichen Polizeikontrollen.
Die Entführung sorgte für Schlagzeilen. Dagegen erfährt die Öffentlichkeit von der Verfolgung, die Basma Mostafa erleidet, kaum etwas. Bei der Drohung des angeblichen Polizisten in Genf blieb es nämlich nicht: 2022 wurde sie von einem Mann aus dem Umfeld der ägyptischen Botschaft in Berlin geschlagen. Zudem erhielt sie Drohschreiben an ihre Wohnadresse, und auf Facebook wurden Vergewaltigungsaufrufe veröffentlicht. Immer wieder wurde ihr aufgelauert. Luise Amtsberg, ehemalige Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung, hatte noch im April darauf hingewiesen, dass die Repression gegen die Journalistin »offensichtlich durch Vertreter, im Auftrag oder mit Duldung der ägyptischen Behörden« geschehe. Das war eine deutliche Kritik.
»Wenn Menschen in Deutschland verfolgt werden, dann sind sie bislang mit ihren Ängsten allein«, sagt David Missal von der Tibet-Initiative. Dabei sei »transnationale Repression nicht nur eine Bedrohung für Einzelpersonen, sondern auch eine Herausforderung für Demokratie und Rechtsstaatlichkeit«. Dafür brauche es in Deutschland mehr Aufmerksamkeit – und politische Antworten.
Elf Menschenrechts- und Diaspora-Organisationen, darunter Reporter ohne Grenzen und die Tibet-Initiative, haben sich daher 2024 zu einer »Koalition gegen transnationale Repression in Deutschland« zusammengeschlossen. Sie wollen eine größere Öffentlichkeit schaffen und den Verfolgten beistehen. Die Organisationen fordern eine zentrale Anlauf- und Kontaktstelle für Dissidenten. Diese soll Fälle dokumentieren, Maßnahmen verschiedener Behörden koordinieren und Betroffene rechtlich, psychologisch und medizinisch unterstützen.
Immerhin hat sich das neue Regierungsbündnis im Koalitionsvertrag dazu bekannt, der Verfolgung von Regimegegnern auf deutschem Staatsgebiet »wirksam« zu begegnen. Reporter ohne Grenzen begrüßt dies, verlangt aber, dass der Ankündigung rasch ein verbesserter Schutz folgen müsse. Denn diese Straftaten nehmen zu, weil weltweit mehr Staaten autoritär regiert werden – und Autokratien machen an Grenzen nicht halt.
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