Studierendenproteste in Serbien: Von der Uni auf die Straße

140 000 Menschen demonstrierten in Belgrad für Neuwahlen. Mit Ablauf eines Ultimatums beginnt nun eine neue Protestphase

  • Larissa Schober
  • Lesedauer: 7 Min.
Massendemonstration in Belgrad, 28. Juni 2025
Massendemonstration in Belgrad, 28. Juni 2025

Am 28. Juni schaute ganz Europa nach Budapest. Über 100 000 Menschen widersetzten sich dem Verbot der dortigen Pride-Parade und versammelten sich zur größten Pride, vielleicht gar der größten Demonstration überhaupt, die Ungarn je gesehen hatte. Am selben Tag fand auch in Belgrad eine riesige Demonstration statt, die allerdings sehr viel weniger internationale Aufmerksamkeit erhielt: An die 140 000 Menschen zogen durch die serbische Hauptstadt und forderten Neuwahlen. Die Demonstration markiert einen weiteren Höhepunkt der seit acht Monaten anhaltenden Proteste gegen das Regime von Aleksandar Vučić – und gleichzeitig einen Wendepunkt. Denn abends um 21 Uhr lief das von den Studierenden gestellte Ultimatum für die Ausrufung von Neuwahlen ab. Im Anschluss hieß es: »Ihr habt grünes Licht.« Damit erreichten die Proteste eine neue Phase. Bereits im Vorfeld hatten die Studierenden angekündigt, zum zivilen Ungehorsam überzugehen, sollte Vučić das Ultimatum verstreichen lassen.

Zu Beginn der Proteste hatte Vučić Neuwahlen noch selbst ins Spiel gebracht, nun will er von Wahlen vor 2026 nichts wissen. Denn langsam wird die Luft für den seit zwölf Jahren autokratisch regierenden Präsidenten dünn. So etwa bei den Lokalwahlen in den Gemeinden Kosjerić und Zaječar am 8. Juni: Trotz massiver Unregelmäßigkeiten, die auf Wahlfälschung hindeuten, verlor die Regierungspartei SNS in beiden Gemeinden massiv an Stimmen. In Kosjerić lag die SNS gerade noch einen Prozentpunkt vor der größten Oppositionspartei. Wegen der Unregelmäßigkeiten musste ein Teil der Wahl dort am 1. Juli wiederholt werden.

Ausweitung von Militanz

Wie nervös das Regime mittlerweile ist, zeigte sich auch zum Ende der Demonstration am 28. Juni. Es kam zu Ausschreitungen – die Studierenden beendeten die Veranstaltung, nachdem die Polizei auf Teilnehmer*innen eingeprügelt hatte. Noch in der Nacht errichteten Anwohner*innen daraufhin in ganz Belgrad Barrikaden.

Mit dem Ende des Ultimatums verlagert sich der Protest weiter in die Zivilgesellschaft und auf die Straße. Mittlerweile sind in über 20 Städten in ganz Serbien Straßen blockiert. Die Regierung hält weiterhin an dem lächerlichen Narrativ einer aus dem Ausland gesteuerten Farbenrevolution fest: Wenige »Terroristen« würden den Serb*innen das Leben schwer machen.

Nichts ist für ein autokratisches Regime gefährlicher, als wenn die Menschen die Angst vor ihm verloren haben.

Die Rede von »Terroristen« spiegelt sich in einer beispiellosen Repressions- und Verhaftungswelle, mit der die Regierung seit dem 28. Juni gegen die Protestierenden vorgeht. Maskierte Polizist*innen agieren äußerst brutal, immer wieder gibt es Berichte über Schlägertrupps in unmarkierten Uniformen, von Verhaftungen ohne vorheriges Ausweisen. Auf ihren Social-Media-Accounts sprechen die Studierenden deshalb von Entführungen statt Verhaftungen. Neben Neuwahlen fordern sie nun auch die Freilassung aller Gefangenen.

Bisher zeigt die Repression allerdings keine Wirkung. Die Protestierenden halten an ihren gewaltfreien und teilweise äußerst kreativen Methoden fest. Taucht die Riot-Polizei an den Barrikaden auf, ziehen sie sich zurück, lassen diese die Barrikade räumen und bauen sie später wieder auf. Andernorts wird der Verkehr durch plötzliche Autopannen aufgehalten. Oder Menschen überqueren immer wieder sehr langsam Zebrastreifen. Und ja, die Polizei hat dafür Strafzettel ausgestellt. Aber das Katz-und-Maus-Spiel überfordert und ermüdetet die Einsatzkräfte. Demütigend ist es obendrein.

Wie lange dieser faktische Ausnahmezustand anhalten wird, ist nicht abzusehen. Die Proteste gehen in den achten Monat; die Bewegung hat bewiesen, dass sie einen langen Atmen hat. Gleichzeitig sieht es nicht danach aus, als würde Vučić in absehbarer Zeit auf ihre Forderungen eingehen. Dennoch: »Das Szenario, dass alle zum Alltag zurückkehren, gibt es schlicht nicht«, meint Dejan Mihajlović, Referent für politische Bildung in Freiburg. »Dafür wurde schon zu viel erlebt und erreicht. Alle wissen, dass ein Zurück jede Idee von Freiheit auf Jahrzehnte begraben würde.«

Basisdemokratie und Nationalismus

Die serbische Gesellschaft hat sich mit den Protesten verändert. Ein wichtiger Teil davon sind die Bürger*innenräte, die seit der bisher größten Demonstration am 15. März überall entstanden sind und in denen lokale Angelegenheiten auf lokaler Ebene behandelt werden. Ihre Struktur trägt dazu bei, dass nun Barrikaden blitzschnell an verschiedensten Orten organisiert werden können. Mihajlović erzählt aber auch von Widerstand jenseits der Straßenproteste: »In Banovo Brdo, meinem alten Viertel in Belgrad, wurde die Leiterin einer Grundschule durch eine Regierungsanhängerin ersetzt. Dagegen organisierten sich Eltern und Lehrer*innen und drohen mit Streik, sollte die Entscheidung nicht rückgängig gemacht werden.« Beispiele wie dieses gibt es viele.

Was sich allerdings nicht verändert hat, ist der weitverbreitete Nationalismus in der serbischen Gesellschaft. Bisher war es der Protestbewegung gelungen, das Problem weitestgehend zu umschiffen. Am 28. Juni sah das jedoch ganz anders aus. Schon das Datum ist symbolträchtig: Der Vidovdan oder Veitstag spielt eine zentrale Rolle in der serbischen Geschichtsmythologie und erinnert an die Schlacht auf dem Amselfeld 1389. Auf diese beziehen sich immer wieder chauvinistische, großserbische Erzählungen. Und solche Erzählungen waren dann auch in einigen Redebeiträgen auf der Demonstration zu hören. In ultranationalistischer Manier wurden angeblich »genozidale Pogrome« gegen die serbische Minderheit im Kosovo beklagt und ein »serbischer Integralismus« gefordert, also die Einverleibung von serbisch besiedelten Gebieten außerhalb Serbiens.

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Solche Reden zuzulassen, mag vielleicht Taktik der Organisator*innen gewesen sein, um den Vorwurf des »Landesverrats«, den die Regierung gegen die Protestbewegung ins Feld führt, zu entkräften. Dies ist dennoch fatal. Einerseits stimmt, was der Schriftsteller Marko Dinić in der »Süddeutschen Zeitung« schreibt: Ein Systemwechsel von innen funktioniert nur, wenn er von einem Großteil der Bevölkerung getragen wird. Und in Serbien, das seine Vergangenheit nie aufgearbeitet hat, hält eben ein Großteil dieser Bevölkerung solche Narrative für legitim. Das zu ändern, braucht nicht nur einen Regimewechsel, sondern auch Zeit.

Aber das heißt nicht, dass man Nationalismus offen bedienen und ihm eine Bühne bieten sollte. Bisher kam die Protestbewegung ganz gut ohne ihn aus. Neben ihrer Inklusivität – die eben auch Stillschweigen über kontroverse Themen beinhaltete – war eine der Stärken der Bewegung bisher, dass sie sich vom Regime nicht vor sich hertreiben ließ, sondern ihre eigenen Themen setzte. Damit ist sie am Vidovdan nun erstmals gescheitert. Es bleibt zu hoffen, dass sich das in Zukunft nicht wiederholt.

Die von den Demonstrierenden erhoffte Erneuerung ist mit den alten chauvinistischen Erzählungen nicht zu haben. Vielmehr sind sie eng verknüpft mit dem alten Regime. Viele Protestierende haben allerdings ohnehin genug von nationalistischen Erlösungsfantasien und werden von solchen Reden eher abgeschreckt. Gleiches gilt für Angehörige von Minderheiten in Serbien.

Protest mit langem Atem

Derweil gehen die Blockaden – und die Repression – weiter. Doch auch wenn es zu Gewalt kommt, lassen sich die Menschen nicht einschüchtern. Am Sonntagabend, dem 6. Juli, ging die Polizei in der Kleinstadt Užice brutal gegen Anwohner*innen vor, die eine Straße blockierten. Kurz darauf umstellten Hunderte Menschen das örtliche Polizeirevier. Am nächsten Abend blockierten sie eine Hauptverkehrsstraße; Dienstagmorgen gab es einen großen Protest vor dem Gerichtsgebäude, in dem sechs Personen, darunter ein Anwalt, wegen der Vorfälle am Sonntag angeklagt waren.

Nichts ist für ein autokratisches Regime gefährlicher, als wenn die Menschen die Angst vor ihm verloren haben. Das ist in Serbien längst geschehen. Dejan Mihajlović ist daher sicher, dass mehr Repression das Problem für das Regime nicht lösen wird. »Aber irgendwann ist der Punkt erreicht, an dem es kippen muss.« Was dann passiert, lässt sich nicht vorhersagen.Bei der Budapest Pride war die internationale Aufmerksamkeit auch ein Sicherheitsgarant für die Teilnehmenden. Dieser Aspekt könnte bald auch für die Proteste in Serbien relevant werden. Das Regime wackelt, und es bleibt zu hoffen, dass es im Überlebenskampf nicht völlig außer Kontrolle gerät.

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