Das Spaßgetränk kennt keine Klassengrenzen

In einer Welt, in der Ungleichheit zunimmt, ist das Spaßgetränk für Nadia Shehadeh ein selten gewordenes Symbol von Teilhabe

Limonaden – Das Spaßgetränk kennt keine Klassengrenzen

Seit einigen Jahren steht in den Kühlregalen ein neues Versprechen: Spaß. Flüssig, kühl, stilisiert – und für alle. Ob »Coke Zero« aus dem Discounter, Bio-Rhabarberschorle im Hipster-Café oder 4,49 Euro teurer Holunder-Limetten-Extrakt mit fancy Etikett: Das Spaßgetränk kennt keine Klassengrenzen. Es ist das letzte demokratische Konsumgut einer Gesellschaft, die ansonsten längst in Parallelwelten zersplittert ist.

Während Immobilien, Gesundheitsvorsorge und selbst Grundnahrungsmittel zunehmend zu Klassenfragen geworden sind, ist das Getränk mit Geschmack geblieben. Es steht trotz gestiegener Preise irgendwie trotzdem noch fast allen offen. Es kostet mal 79 Cent, mal fünf Euro – aber es ist da. In jeder Tanke, jedem Rewe, jedem Späti. Während Wohnen, Urlaub und selbst Butter plötzlich wieder zum Luxus werden, ist das Spaßgetränk vielleicht noch drin. 250 Milliliter Flüssigflucht zu Preisen für jede Zielgruppe.

Gerade in Zeiten von Inflation und schleichender Rezession ist das nicht banal, sondern ziemlich bezeichnend. Wenn größere Wünsche wegbrechen – Eigentum, Planbarkeit, Rücklagen – verschiebt sich der Konsum in die kleinen Dinge. Und das Getränk mit Charakter bleibt auffällig, bezahlbar, irgendwie tröstlich. Und dazu noch schmackhaft. Der vielleicht letzte Wunsch, den man haben darf.

Nadia Shehadeh
Bielefeld

Nadia Shehadeh ist Soziologin und Autorin, wohnt in Bielefeld und lebt für Live-Musik, Pop-Absurditäten und Deko-Ramsch. Sie war lange Kolumnistin des »Missy Magazine« und ist außerdem seit vielen Jahren Mitbetreiberin des Blogs Mädchenmannschaft. Zuletzt hat Shehadeh bei Ullstein das Buch »Anti-Girlboss. Den Kapitalismus vom Sofa aus bekämpfen« veröffentlicht. Für »nd« schreibt sie die monatliche Kolumne »Pop-Richtfest«.

Das Spaßgetränk hat keine Eintrittsbarrieren, keine Preisschranken und kein moralisches Screening. Niemand fragt, ob ich es »brauche«. Es fragt nicht nach meinem Body Mass Index, meiner Bildschirmzeit oder meinem Bildungsabschluss. Ich darf einfach. Ich kann. Und ich kann wählen: Zitrone-Salz-Limo, Apfel-Kirsch oder Gojibeere mit Ginseng.

Was aussieht wie ein harmloser Durstlöscher, ist in Wahrheit ein klassenübergreifender Code. Während das politische System Mühe hat, Beteiligung zu organisieren, funktioniert die Getränkewahl wie ein minimales Restvotum in beschissenen Zeiten: Hier entscheide ich. Jeden Tag neu. Mit Kohlensäure oder ohne. Mit Zucker oder mit Süßstoff.

»Distinkter Alltagskonsum« ist hier kein Stichwort. Hier gibt es noch Zugang für alle zu allem. Mineralwasser mit einer Spur Probiotik, Orangenlimo mit Biofrüchten, Schorlen mit Saisonware – alles steht nebeneinander im Regal. Und man darf zugreifen. Es ist die kleine Utopie in der Getränkekühlung, manchmal mit Mengenrabatt. Spaßgetränke darf man sich gönnen, ohne auf den Deckel zu bekommen. Sie sind die zivile Version der früher verhassten Alkopops. Diese wurden damals öffentlich geächtet: zu bunt, zu billig, zu gefährlich. Das Spaßgetränk dagegen ist unverdächtig. Es ist harmlos genug, um durchzugehen, aber subversiv genug, um sich über soziale Grenzen hinwegzusetzen. Und es braucht keine Jugenschutzdebatte.

In einer Welt, in der alles ungleich geworden ist – Einkommen, Chancen, Aufmerksamkeit –, ist das Spaßgetränk ein selten gewordenes Symbol horizontaler Teilhabe. Klar, auch das ist Marketing. Aber es ist ein Angebot, das nicht nur den Kapitalbesitzern offensteht. Spaßgetränke sind vielleicht die Stellvertreterlösung für Teilhabewünsche. Eine nicht-parlamentarische Lösung, irgendwo zwischen Süßung und Säure. Ich kann pleite oder allein sein, aber ich kann dabei Blubberwasser trinken. Auch in meinem immer unsicherer werdenden Konsumalltag. Auch dann, wenn Gesellschaft kein Trost mehr ist.

Prost! Auf eins der großen Wahlrechte dieser Gegenwart. Es ist natürlich nicht die Lösung – aber es ist kalt, und es schmeckt mir oft besser als alles andere, was sonst gerade noch so los ist.

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