Ein Jahrhundertleben

Anmerkungen zu Dmitri Schostakowitsch zum 50. Todestag (Teil 3 und Schluss)

  • Berthold Seliger
  • Lesedauer: 7 Min.
Ein Kosmos geht spazieren: Schostakowitsch schlendert 1963 durch ein Waldstück in Leningrad.
Ein Kosmos geht spazieren: Schostakowitsch schlendert 1963 durch ein Waldstück in Leningrad.

Im Mai fand in Leipzig ein weltweit einzigartiges Leipziger Schostakowitsch-Festival statt. Anlässlich des kommenden 50. Todestags des Komponisten am 9. August wurde mit einer fast enzyklopädischen Gesamtschau aller Sinfonien, Streichquartette und Solokonzerte geglänzt. Zudem gab es viele kammermusikalische Werke des Komponisten zu hören, besonders solche, die eine Schlüsselrolle in seinem Werk einnehmen. So konnten die Zuhörer*innen tief in den Kosmos Schostakowitsch eintauchen, zumal sämtliche Aufführungen von herausragender Qualität waren.

Das gilt nicht nur für die beiden Sinfonieorchester und ihren Schostakowitsch-Experten Andris Nelsons, sondern auch für die fabelhaften Solist*innen. Allen voran Daniil Trifonov, der mit seiner immensen Anschlagskunst sogar ein eher banales Stück wie das 2. Klavierkonzert, das Schostakowitsch seinem Sohn Maxim zu dessen 19. Geburtstag widmete, zu einem faszinierenden Erlebnis werden ließ. Atemberaubend auch die beiden Klaviersonaten, etwa die erste des gerade einmal 20-Jährigen, in der er die Ereignisse der von ihm in St. Petersburg miterlebten Oktoberrevolution rekapituliert, und die Interpretation der späten, todesnahen Violinsonate, die Trifonov gemeinsam mit Nikolaj Szeps-Znaider darbot, mit ihrem Gespenster-Tanz im 2. Satz und der unerbittlichen Passacaglia mit all ihren Bach- und Alban-Berg-Referenzen.

Oder Gautier Capuçon aus Frankreich, der das 1. Cello-Konzert elegant aufführte. Bewegend auch die Lettin Baiba Skride mit dem Violinkonzert, das der Komponist in den dunklen Jahren 1947 und 1948 schrieb, als er wieder einmal ins Feuer stalinistischer Kritik geraten war, weil er angeblich die Kriterien der Volksnähe nicht erfüllte. Wir erinnern uns mit Schrecken an Stalins Diktum »Die Volksmassen erwarten schöne Lieder« aus dem berühmt-berüchtigten Aufsatz »Chaos und Musik«, der in der »Prawda« vom Januar 1936 erschien und mit der Moderne abrechnete, am Beispiel von Schostakowitschs Oper »Lady Macbeth von Mzensk«. Stattdessen wurde nun auch in der Musik rigoros ein platter sozialistischer Realismus durchgesetzt.

Doch der Komponist schuf durchaus auch »schöne«, volksnahe Musiken – der Walzer aus seiner 2. Suite für Varieté-Orchester gehört zweifelsohne zu den allerschönsten Musikstücken des 20. Jahrhunderts (und ist spätestens als Leitmotiv aus Kubricks »Eyes Wide Shut« bekannt). Schostakowitsch schrieb etliche Bühnen- und Ballettmusiken, acht Opern und die Musik zu über vierzig Filmen – einen davon, »Fünf Tage – Fünf Nächte« von Leo Armstam (UdSSR/DDR 1961), zeigte das Festival. Diese Bühnen- und Unterhaltungsmusiken werden oft vernachlässigt, in Leipzig wurden sie vom Salonorchester Cappuccino aufgeführt.

Dmitri Schostakowitsch war ein Komponist von enormer Schaffenskraft. Und er war ein Komponist, der während langer Phasen seines Lebens durchaus nicht gegen seinen Willen in die Sowjetgesellschaft eingebunden war. Er hatte Professuren (die ihm zwischenzeitlich aberkannt wurden) und hohe Ämter im sowjetischen Komponistenverband inne. Er vertrat die Sowjetunion auf internationalen Kongressen. Und dieser Widerspruch, dieses Zwiegespaltene – weitgehend eingebunden zu sein in das System, aber auch immer wieder vom System bedroht – findet sich durchgängig in Schostakowitschs Werken.

Mag sein, dass man in einigen Kompositionen direkten Widerstand gegen Stalin erkennen kann (solche Kompositionen verschwanden in der Regel in der Schublade des Komponisten). Und zu Recht kann man in andere Kompositionen eine Art inneren Widerstand hineininterpretieren. Waren seine großen sinfonischen Werke einige Jahre nicht opportun, schrieb er eben Filmmusiken, um Geld zu verdienen, wie er selbst bekannte. Andererseits aber können seine zahlreichen Werke, in denen die Revolution oder die Sowjetunion positiv dargestellt, zum Teil sogar gefeiert werden, kaum als bloße, dem Überleben dienende Propagandawerke denunziert werden. Das Zersplitterte, das Widersprüchliche in seiner Persona macht Schostakowitsch zu einem typischen Vertreter seiner Zeit, des 20. Jahrhunderts.

Zeitlebens begleitete den Komponisten seine intensive Kindheitserinnerung an die Ouvertüre aus Rossinis Oper »Wilhelm Tell«. Vielleicht war Stalin für Schostakowitsch ein Tyrann wie Hermann Gessler, der Gegner von Wilhelm Tell aus dem Schweizer Nationalepos, der von seinen Untertanen verlangte, man solle symbolisch seinen Hut grüßen, was Tell verweigert. Auch Schostakowitsch musste mit seinen Werken immer wieder auf irgendeine Weise an diesem Gesslerhut vorbeikommen, der ihm seit den 1930er Jahren auf teilweise grausame Art und Weise im Weg stand.

In Leipzig kombinierten Andris Nelsons und das Boston Symphony Orchestra die 6. (1939) und die 15. Sinfonie (1971). Auf den ersten Blick eine etwas merkwürdige Kombination, doch gemeinsam haben die beiden Werke ausgerechnet Zitate aus Rossinis »Wilhelm Tell«-Ouvertüre. In der Sechsten lässt Schostakowitsch die »presto« galoppierenden Pferde aus der Tell-Ouvertüre, einer der Lieblingsmelodien Stalins, im Schlusssatz von der Leine, nicht ohne sie an »Ja, das Studium der Weiber« aus Lehárs »Die lustige Witwe«, der Lieblingsoperette Hitlers, vorbeipreschen zu lassen. Hier antwortet der Tell-Galopp in seinem Final-Übermut auf einen grüblerischen, introvertierten ersten Satz, dem ein zur Groteske überzeichnetes Scherzo folgt: Den letzten Satz verglich Schostakowitschs enger Freund Isaak Glikman mit der »Beschreibung eines Fußballspiels« und dem darin enthaltenen »Auf und Ab von Erfolg und Misserfolg«. Schostakowitsch war eingefleischter Fußballfan, man konnte ihn in den 30er Jahren regelmäßig im Leningrader Stadion antreffen.

Schließlich gab es Schostakowitschs letzte Sinfonie Nr. 15 in A-Dur, op. 141 mit dem merkwürdig satirisch anmutenden ersten Satz, den er als »die Kindheit, ein Spielzeugladen mit einem wolkenlosen Himmel darüber« beschrieb. Kurt Sanderling, der bedeutende Schostakowitsch-Dirigent und -Freund, verwies darauf, dass es »in diesem Laden nur seelenlose, tote Spielzeuge« gebe, »die an ihren Fäden hängen und zum Leben nur erwachen, wenn an diesen Fäden gezogen wird«. Vielleicht lässt sich das auf den ersten Blick Konfuse in dieser Sinfonie, das Durcheinander, das Nebeneinandergestellte so erklären: Da scheint nichts »Durchkomponiertes«, in Form Gebrachtes vorhanden zu sein, sondern lauter Assoziationen aus einem reichhaltigen Leben: Neben den Spielzeugladen-Motiven ein kühles Streicher-Fugato und das seltsam dahinhuschende Violinsolo im ersten Satz sowie ein Zitat der Trompetenfanfare vom Anfang der 5. Sinfonie Mahlers; Trauermarsch-Anrufungen der Flöten und herzzerreißenden Cello-Soli, darunter sogar traumhaft schöne Zwölftonreihen; eigentümliche Spieluhren-Klänge von Triangel, Kastagnetten, Trommel, Xylophon und Piccolo-Flöte, zudem etliche Eigenzitate, nicht zuletzt die berühmte, aus seinem Namen gebildete Tonfolge »D-Es-C-H«. Und im 4. Satz, einem Adagio, schließlich das »Schicksalsmotiv« aus Wagners »Ring der Nibelungen«, die »Todesverkündigung« aus der »Walküre« (einem Lieblingswerk Lenins …), gefolgt vom sehnsuchtsvollen Motiv aus dem Vorspiel von »Tristan und Isolde«, das in das Zitat eines Glinka-Liedes mündet, in dem wie bei Shakespeares Hamlet das große Vergessen durch den Schlaf angerufen wird.

Aber was sollen all diese Zitate? Schostakowitsch verriet Glikman: »Ich weiß selbst nicht so recht, warum all diese Zitate da sind, aber ich konnte nicht, nicht, nicht auf sie verzichten.« Noch heute reiben sich Rezensenten an der doch längst zur Methode gewordenen Montagetechnik, die der Komponist hier besonders extensiv angewandt hat.

In Leipzig war auch der Dokumentarfilm »Two. The Story Told By Shostakovitch’s Wife« der israelischen Regisseurin Elena Yakovich von 2022 zu sehen. Neben eindrucksvollen originalen Filmausschnitten, die den Komponisten bei der Arbeit, in der Freizeit, aber auch beim Hören seiner Musik zeigen, sind vor allem Interviews mit Irina Antonova Schostakowitsch, seiner dritten Ehefrau, zu sehen. Sie erzählt, dass Schostakowitsch sich auf dem Totenbett gewünscht habe, ein Fußballspiel im Fernsehen anzuschauen. Sie habe sich im Krankenhaus auf den Weg gemacht, ein kleines Fernsehgerät aufzutreiben, und als sie damit in sein Krankenzimmer zurückgekehrt war, sei er bereits entschlafen.

Dmitri Schostakowitsch – eine seiner ersten musikalischen Erinnerungen: Rossinis »Wilhelm Tell«-Ouvertüre. Sein letzter Wunsch: Ein Fußballspiel schauen. Dazwischen: Ein Jahrhundertleben.

Empfehlenswerte Gesamtaufnahmen der 15 Sinfonien: Kirill Kondraschin, mit verschiedenen russischen Orchestern (Melodya, antiquarisch); Andris Nelsons, Boston Symphony Orchestra (Deutsche Grammophon), preiswertes Box-Set mit allen Sinfonien, sämtlichen Klavier-, Violin- und Cello-Konzerten sowie der Oper »Lady Macbeth von Mzensk«
Online sind auch Teil 1 und Teil 2 von Berthold Seliger zu Schostakowitsch abrufbar.

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