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Achtung, Buchpreis-Longlist: Die Angst weiterzulesen

Die aktuelle Longlist des Deutschen Buchpreises offenbart das Elend der deutschsprachigen Literatur

  • Frank Jöricke
  • Lesedauer: 6 Min.
Das war ein gutes Buch, wir schwören! Im vergangenen Jahr gewann Martina Hefter mit »Hey guten Morgen, wie geht es dir?« den Deutschen Buchpreis 2024.
Das war ein gutes Buch, wir schwören! Im vergangenen Jahr gewann Martina Hefter mit »Hey guten Morgen, wie geht es dir?« den Deutschen Buchpreis 2024.

Das Zweitschlimmste sind die Autorenbeschreibungen. Sie orientieren sich an zu oft gelesenen Wichtigtuer-Formulierungen wie »hat studiert in Wuppertal und Paris«. Jeder, der schon mal eine Uni von innen gesehen hat, geht davon aus, dass das Studium in Paris nur ein Auslandssemester war, aber es klingt halt besser. Auch die Lebensläufe jener zwölf Schriftstellerinnen und acht Schriftsteller, deren Werke es auf die Longlist des Deutschen Buchpreises geschafft haben, wurden für den dazugehörigen Leseprobenband ordentlich aufgeblasen.

Die eine hatte ein Residenzstipendium, die nächste war Teilnehmerin an der Bayerischen Akademie des Schreibens, einer gewann den Klaus-Michael-Kühne-Preis, ein anderer den Franz-Hessel-Preis und wieder eine andere den Kranichsteiner Literaturförderpreis, mehrere waren schon mal auf diversen Shortlists oder erreichten das Finale des Open Mike. Der einzige Nominierte, in dessen Kurzbiografie auf die Auflistung solcher Erfolge verzichtet wird, ist Feridun Zaimoglu. Aber der hat’s ja auch nicht nötig; den kennt man schon.

Der Deutsche Buchpreis wird im Oktober kurz vor der Frankfurter Buchmesse vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels vergeben. Er ist mit 25 000 Euro dotiert. Ende August wurde die Longlist der Autorinnen und Autoren präsentiert, aus der die Jury die Shortlist mit sechs Titeln destilliert, die nächste Woche bekanntgegeben wird. Die fünf, die nicht gewinnen, bekommen jeweils 2500 Euro zugesprochen.

Worüber hingegen kein Wort verloren wird, sind die Verkaufszahlen. In der Buchbranche gilt ein Roman als Erfolg, wenn 4000 Exemplare über den Ladentisch gegangen sind – wenn also 0,005 Prozent der Bevölkerung bereit war, Geld dafür auszugeben. Das muss kein Kriterium für Qualität sein, aber man kann davon ausgehen, dass dies nicht jedem der Autor*innen auf der Longlist vergönnt war.

Nach der Lektüre der offiziellen Leseproben versteht man auch, warum. Wenn ein Autor mit den Worten beginnt: »Nun, als ich auf mich gestellt war, bewarb ich mich bei den Germanisten als Tutor, das war möglich, wenn man fünf Semester hinter sich hatte«, ist man geneigt, schon nach dem ersten Satz das Buch auf Seite zu legen und die Zeit sinnvoller zu nutzen. Man könnte ja mal wieder das Eisfach abtauen oder CDs sortieren.

Aber dann sagt man sich, »sei nicht so streng, gib ihnen eine Chance!« Und so kämpft man sich durch 20 Leseproben, um herauszufinden, was ein Buch auszeichnet, das als Longlist-würdig erachtet wurde. Was auffällt: Viele schreiben in der 1. Person. Diese Form des Erzählens funktioniert dann, wenn das Ich tatsächlich etwas zu erzählen und daraus als veränderter Mensch hervorgeht. Oder wenn es – wie bei Heinz Strunk – den ganz normalen Irrsinn so präzise beschreibt, dass dieser zu leuchten anfängt.

»Lebensversicherung« von Katrin Bach beginnt mit den Worten: »Ich bin vierunddreißig Jahre alt und habe Angst.« Das ist doch mal ein Einstieg! Und weil »Ich habe Angst« ja schon mal neugierig macht, wiederholt sie diesen Satz in mannigfachen inhaltlichen Variationen. Dadurch entsteht eine unfassbare Monotonie, die – wir haben ja damals im Deutsch-Leistungskurs aufgepasst – sicher symbolisieren soll, dass das Leben in ihrem Dorf unfassbar monoton ist. Da man diese Botschaft nach viereinhalb Seiten kapiert hat, machen die restlichen gut 230 Seiten ziemlich Angst.

Bei Kaleb Erdmann scheint das Ich ein Teetrauma zu haben (»Tee trinken hat ja etwas Masochistisches, das dachte ich schon immer, sage ich«). Also räsoniert er in »Die Ausweichschule« über den Teeaufguss als Metapher, während er ein Nutria betrachtet, das wiederum von einem Kind betrachtet wird. Aber eigentlich geht es weder um Tee noch um falsche Biber, sondern um einen Roman des Ich-Erzählers. Also ein Fall von selbstreferenzieller Literatur. Galt mal als supermodern. Damals, in den 70ern. Aber mittlerweile sind wir ein halbes Jahrhundert weiter.

In der deutschen Mittelschichtsliteratur erinnern sich oft die Kinder von Verwaltungsangestellten an die alte Reihenhaussiedlung, literarisch ist das meist unergiebig. Vielleicht gelingt es ja postmigrantischen Autorinnen und Autoren, hintergründigere Geschichten zu verfassen, aufgrund von Erfahrungen, die existenziellerer Natur sind? Wie Dmitrij Kapitelman, der in Kyjiw geboren wurde, Jina Khayyer, die iranischer Abstammung ist, und Jehona Kicaj, die Anfang der 90er im Kosovo zur Welt kam. Das könnte doch spannend werden, denkt man sich. Doch was alle drei abliefern, sind Erlebnisberichte, wie man sie in der »Zeit« findet. Also Texte der Art, die Bildungsbürger daran erinnern, dass es jenseits der Bundesrepublik eine Welt gibt, in der es ungemütlicher zugeht. Das ist journalistisch, aber nicht literarisch interessant.

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Hätten sie sich doch einmal die Erzählungen und Romane des renommiertesten migrantischen deutschen Schriftstellers Maxim Biller zu Gemüte geführt. Dann hätten sie gewusst, dass autobiografisch gefärbte Texte davon leben, dass sie zum einen offenlassen, was real und was erfunden ist, und zum anderen bei allem persönlichen Dekor einen erzählerischen Kern haben, der universell ist. Der fehlt bei Dmitrij Kapitelman, Jina Khayyer und Jehona Kicaj. Das Gelesene hallt nicht nach bald – so wie man auch die Texte der »Zeit« bald wieder vergisst.

Der viel zu früh verstorbene Uwe Kopf (»Die elf Gehirne der Seidenspinnerraupe«) meinte einmal: »Man sollte seine Texte aufs Skelett reduzieren und jedes überflüssige Wort weglassen. Das gilt besonders für Adjektive. Oft will der Autor nur (…) Originalität erzwingen.« Daran denkt man, wenn man so einen Satz liest: »Der Koffer rollt brav und widerstandslos neben mir her über die spiegelnden Steinplatten.« Viele Texte auf der Longlist kranken daran, dass das Bemühen, »originell« zu sein, allzu offensichtlich durchschimmert.

Und während man insgeheim der deutschsprachigen Literatur den Totenschein ausstellt und sich fragt, wer das liest (Masochisten? Menschen ohne Sprachgefühl?), geschieht das Wunder. Eine ehemalige Psychiatriekrankenschwester haut einen Text raus, bei dem man bereits nach wenigen Sätzen in den Seilen hängt: »Meine Mutter bringt uns Töchtern Dinge bei. Andere Dinge, als mit geradem Rücken am Esstisch zu sitzen, als ›Danke‹ und ›Bitte‹ zu sagen, andere Dinge als ihrem Sohn. Sie bringt uns bei, dass Schnaps Ärger bedeutet. Dass Männer, die Bier trinken, harmlos sind.« So beginnt »Das Schwarz an den Händen meines Vaters« von Lena Schätte. Und natürlich werde ich die 24 Euro ausgeben, um zu erfahren, wer hier was trinkt und warum.

Deutscher Buchpreis 2025: Die Nominierten. 128 S., gratis in vielen Buchhandlungen erhältlich.

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