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Nahost: Logik und Versöhnung

Alex Demirović kritisiert gewalttätige Parteilichkeit im Nahost-Konflikt und blickt auf die persönliche Betroffenheit der Menschen

Propalästinensische Aktivisten haben anlässlich des Weltkindertages hunderte symbolische Friedenstauben aus Papier aufgehängt.
Propalästinensische Aktivisten haben anlässlich des Weltkindertages hunderte symbolische Friedenstauben aus Papier aufgehängt.

In den USA werden die Universitäten, die Forschungseinrichtungen, die Wissenschaftler*innen angegriffen, verfolgt und von den Hochschulverwaltungen bei der Regierung angeschwärzt. Es geht um Geld, nicht um Wissenschaftsfreiheit. Auch in Deutschland wird von interessierten Kräften nahegelegt, insbesondere die Universitäten seien Zentren des Antisemitismus. In Seminaren wird gespitzelt, Hochschullehrer*innen werden zum Rapport beordert. Die, die heimlich oder öffentlich zum Denunziationsklima beitragen, müssen sich hingegen kaum rechtfertigen und ohnehin kaum auf Argumente hören.

Gerührt noch vom Anlass der Neueröffnung eines von den Nazis zerstörten jüdischen Bethauses, spricht der Bundeskanzler Friedrich Merz einmal mehr vom importierten Antisemitismus. Es ist wie ein stillschweigender Pakt: wie gut, dass die Regierenden auch aus der CDU keine Nazis mehr sind oder sich antisemitisch äußern. Die 1999 aufgedeckte Affäre um die angeblich jüdischen Gelder in den schwarzen Kassen der CDU scheint so lange zurückzuliegen. War nicht der Förderer von Merz, Wolfgang Schäuble, darüber gestolpert? Wie war das in der Familie von Merz? Alles Antifaschisten?

Alex Demirović

Alex Demirović stammt aus einer jugoslawisch-deutschen Familie; der Vater wurde von den Nazis als Zwangsarbeiter verschleppt. Wegen eines politisch motivierten Vetos des hessischen Wissenschaftsministeriums durfte Demirović in Frankfurt nicht Professor werden. Seitdem bewegt er sich an der Schnittstelle von Theorie und Politik. Jeden vierten Montag im Monat streitet er im »nd« um die Wirklichkeit.

Ich vergesse es nicht: Mein Englischlehrer, der Inbegriff bürgerlicher Strenge und Häme, immer gut angezogen, korrekt rasiert, Landtagsabgeordneter in Hessen und Freund von CDU-Politiker Alfred Dregger, war als Freiwilliger an den Mordkommandos der SS beteiligt. Merz meint mit dem importierten Antisemitismus wohl die Migrat*innen aus Staaten, in denen traditionell der Islam vorherrscht. Aber macht nicht die BRD Geschäfte mit Islamisten wie Erdoğan, obwohl dieser sozialdemokratische Oppositionelle einsperren und säkulare Kräfte in Rojava durch die von ihm finanzierten Islamisten bombardieren lässt?

Wie ist das mit all den säkularen Syrer*innen, den Iraner*innen, die Schutz vor den Religionsführern, den Ayatollahs, in Deutschland suchten? Juden konnten lange in muslimischen Ländern leben. Wie ist das mit den Ukrainer*innen? Vor Jahren lernte ich von einer jüdischen Freundin aus der Ukraine, wie sie von anderen Kindern im Dorf schon früh als Jüdin gemobbt wurde – noch bevor sie selbst wusste, dass ihre Familie jüdisch ist.

Mittlerweile ist die deutsche Öffentlichkeit hysterisiert. Jüdische Publizisten, Vertreter der jüdischen Gemeinde, Vertreter*innen jüdischer Studierender äußern sich darüber, dass sie sich ihres Lebens in Deutschland nicht mehr sicher fühlen. Nicht deswegen, weil es rechte Gewalttäter gibt, die Synagogen angreifen, jüdische Gräber, Mahnmale in früheren Konzentrationslagern schänden oder Stolpersteine entfernen. Vielmehr, weil die Linken, die Studierenden, die Universitäten antisemitisch seien und sich in einem woken Meinungsklima antisemitische Vorfälle häuften.

Empirische Forschungsergebnisse der Konstanzer Forscher*innengruppe »The Politics of Inequality« lassen jedoch erkennen, dass die Studierenden mit sechs Prozent deutlich geringer antisemitisch sind als die Gesamtbevölkerung mit 20 Prozent und sich diese Zahlen über die Jahre kaum verändern. Der israelbezogene Antisemitismus – aufgrund der unseriösen IHRA Definition von Antisemitismus ein Lieblingsthema der öffentlichen Meinung – ging unter den Studierenden von acht auf sieben Prozent zurück. 70 Prozent der Bevölkerung und der Studierenden in Deutschland verurteilen die Terrorangriffe der Hamas. Eine erhebliche Zahl kritisiert aber den Krieg Netanyahus und der israelischen Armee im Gaza, die immer neuen Vertreibungen, das Aushungern der Bevölkerung, die Zerstörung der Gebäude, der Schulen, der Kliniken kritisiert. Auch die Siedlergewalt im Westjordanland wird verurteilt. Das ist keine nationale Macke, sondern entspricht dem Völkerrecht.

Man muss sich den Film über die Bibi-Files ansehen, um zu erkennen, dass diese Politik der israelischen Regierung System hat. Die offizielle Politik Deutschlands, das Ziel der Zweistaatenlösung, wird in Abrede gestellt, viel Entwicklungszusammenarbeit mit den Palästinenser*innen wird zerstört. Eine Alternative ist nicht erkennbar. Klar, es wird gesagt, man dürfe Israels Politik kritisieren. Doch konkret verhält es sich jeweils anders, von den jüdischen Gemeinden kommt kein Modell einer überzeugenden Kritik an der israelischen Politik.

Wie leicht wäre es, ein offenes und versöhnendes Wort für die Palästinenser*innen zu finden, wie es von manchen derer zu hören ist, die von dem Hamas-Massaker konkret betroffen waren. Es verwundert nicht, wenn die Befragung einer Forschungsgruppe an der FU Berlin zeigt, dass junge Wissenschaftler*innen sich in ihrer Forschungsfreiheit bedroht oder befangen fühlen, dass sie um Karriere fürchten, wenn sie sich kritisch über die Entwicklungen im Nahen Osten äußern. Veranstaltungen oder Proteste zur Unterstützung von Palästinenser*innen werden verboten, Demonstrierende administrativ und polizeilich misshandelt. Schon längst wäre von der deutschen Regierung eine Entschuldigung gegenüber denen angesagt, deren Grundrechte verletzt werden.

Ohne viel Fantasie kann man doch sagen, dass es hier nicht nur um Kriegsverbrechen der Hamas und Israels geht, um Verletzungen des Völkerrechts von beiden Seiten, sondern auch um ganz private Betroffenheit. So wie viele Juden in Deutschland Verwandte und Freund*innen haben, die in Israel bedroht sind oder ihr Leben im Militärdienst riskieren müssen, so gilt auch für Palästinenser*innen, dass sie in diesem Krieg Angehörige oder Freund*innen verlieren, ihren Familien von jüdischen Siedlern vielleicht Land und Haus gestohlen und ihnen eine Zukunftsperspektive genommen wird.

Antisemitismus ist keine Kategorie, die zum Verständnis dieses Konflikts noch beiträgt. Die Weltöffentlichkeit ist da verständnisvoller als die deutsche, die unfrei gegenüber ihrer eigenen Geschichte und ihrem Vernichtungsrassismus reflexhaft reagiert. Es wäre an der Zeit, entschieden zur Überwindung des Konflikts beizutragen, anstatt gewalttätige Parteilichkeit zu pflegen.

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