- Kultur
- Roman »Seemannslied«
Ken Kesey: Vorsicht, die Filmleute kommen
Ken Keseys Roman »Seemannslied«, der erst nach 30 Jahren ins Deutsche übersetzt wurde, thematisiert Klimawandel und rechte Umwälzungen
Ken Keseys Roman »Seemannslied« kommt zwar erst über 30 Jahre nach der Erstveröffentlichung in deutscher Übersetzung heraus, aber eigentlich passt das sogar ganz gut. Denn der ziegelsteingroße Roman über eine vom Klimawandel heimgesuchte Erde, in der es gerade mal in Alaska noch erträglich ist zu leben, spielt in den 2020er Jahren, also heute.
Mit »Einer flog über das Kuckucksnest« (1962) wurde der 1935 geborene Kesey, eine der prominentesten Figuren der amerikanischen Gegenkultur der 60er, weltberühmt. Die Verfilmung seines Erfolgsromans hat er selbst nie gesehen. Er ärgerte sich darüber, dass der Hauptcharakter und Erzähler seines Romans, Chief Bromden, im Film zur Nebenfigur degradiert wurde. Kesey schrieb noch zwei weitere Romane, war aber vor allem Performancekünstler und tourte als Mitglied der Gruppe »Merry Pranksters« mit der Kamera in der Hand in einem bunt bemalten Hippie-Bus, unter anderem mit Neal Cassidy und den späteren Musikern von Grateful Dead, durch die USA.
Aus heutiger Sicht wirkt der Roman aber geradezu prophetisch, thematisiert er doch den Klimawandel zu einer Zeit, als das noch literarische Pionierarbeit war.
Sein voluminöses, 700-seitiges Spätwerk »Seemannslied« (1992) hat viele erzählerische Längen, was der Grund sein mag, weshalb es wahrscheinlich nicht sofort übersetzt wurde. Aus heutiger Sicht wirkt der Roman aber geradezu prophetisch, thematisiert er doch den Klimawandel zu einer Zeit, als das noch literarische Pionierarbeit war.
Die kleine fiktive Fischer-Gemeinde Kuinak im Süden Alaskas bekommt plötzlich Besuch von einer Filmcrew, die dort einen Jugendbuch-Klassiker der indigenen Literatur verfilmen und gleich die ganze Kleinstadt zum Vergnügungspark umbauen will. Im Zentrum der Geschichte stehen der Fischer und Ex-Ökoterrorist Ike Sallas (»Der aussieht wie ein griechischer Gott mit den Augen von Elvis Presley.«) und die indigene Alice Carmody, die mit einem dickbäuchigen Fischereiunternehmer verheiratet ist, sich nie etwas gefallen lässt und wild fluchend durch den Kleinstadtkosmos läuft.
In Kuinak leben jede Menge abgehalfterter Freaks, die als »Loyal Order of the Underdogs« organisiert sind, es gibt aber auch viele indigene Bewohner und fast alle leben vom Fischfang. Die snobistischen Filmemacher mit Luxusjacht und Kaviarhäppchen stiften Chaos, bringen aber jede Menge Geld in die Gemeinde. Verfilmt werden soll »Shoola und der Seelöwe«. Dieser angebliche indigene Klassiker ist Teil des Romankorpus und ließe sich am besten als Young Adult Fantasy-Novelle labeln, ist aber in Wirklichkeit gar keine indigene Literatur, wie Alice herausfindet, sondern stammt von einer weißen alten Dame aus New Jersey. Wobei den Text in Wirklichkeit das Multi-Künstler-Talent Ken Kesey 1991 als illustriertes »Kinderbuch« unter dem Titel »The Sea Lion« (1991) herausbrachte.
Während sich am Horizont ein Ionen-Sturm zusammenbraut, der irgendwann die gesamte Elektrik lahmlegt und massive Zerstörungen anrichtet, wird das Verhältnis der Filmproduzenten zu den Einwohnern, deren Dorf bald zur historischen Muster-Indianer-Siedlung umgebaut wird, immer konflikreicher. Vorneweg marschiert Alt-Revoluzzer Ike Sallas gegen die Interessen des Kapitals an.
Ken Kesey schreibt in »Seemannslied« über Klimawandel, kulturelle Aneignung, Rassismus, familiären Missbrauch, die Enteignung indigener Communitys, oft viel zu detailliert über das Fischereihandwerk, selten über Technologie der Zukunft (immerhin gibt es senkrecht startende Flugzeuge), aber es kommen auch rechte christliche Fanatiker in diesem Opus vor.
Damit ist dieses Buch seiner Zeit weit voraus gewesen. Ein bisschen ist das wie eine krude Mischung aus Tom Robbins, Thomas Pynchon und Edward Abbey. Egal, ob es immer wieder hinaus aufs Meer zum Fischen geht, mit dem Propeller-Flugzeug in die unzugängliche Pampa Alaskas oder per Draisine auf einer aberwitzigen Berg- und Talfahrt in Richtung Küste auf der Flucht vor autoritären religiösen Spinnern: Dieser Roman bietet einen bunten Strauß comicartiger Action.
Ken Kesey dürfte beim Schreiben ähnlich viel Spaß gehabt haben wie der Leser bei der Lektüre. Inspiriert wurde Kesey offenbar während eines Jobs in Alaska, als er für Disney 1982 das Skript für einen Naturfilm vor Ort umschreiben sollte. Am Ende nimmt das Ganze richtig Fahrt auf und mündet in ein wundervolles Finale.
Ken Kesey: Seemannslied. Mit einem Vorwort von Volker Weidermann. A.d. amerik. Engl. v. Milena, März-Verlag, 703 S., geb., 38€.
Andere Zeitungen gehören Millionären. Wir gehören Menschen wie Ihnen.
Die »nd.Genossenschaft« gehört ihren Leser:innen und Autor:innen. Sie sind es, die durch ihren Beitrag unseren Journalismus für alle zugänglich machen: Hinter uns steht kein Medienkonzern, kein großer Anzeigenkunde und auch kein Milliardär.
Dank der Unterstützung unserer Community können wir:
→ unabhängig und kritisch berichten
→ Themen ins Licht rücken, die sonst im Schatten bleiben
→ Stimmen Raum geben, die oft zum Schweigen gebracht werden
→ Desinformation mit Fakten begegnen
→ linke Perspektiven stärken und vertiefen
Mit »Freiwillig zahlen« tragen Sie solidarisch zur Finanzierung unserer Zeitung bei. Damit nd.bleibt.