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Ungarn gegen Ilaria Salis
Komitee des Europaparlaments entscheidet über die von Ungarn geforderte Aufhebung der Immunität der italienischen Abgeordneten
Der ungarische Premierminister Viktor Orbán will der italienischen Europaabgeordneten und antifaschistischen Aktivistin Ilaria Salis an den Kragen. An diesem Dienstag stimmt das Komitee für rechtliche Fragen (Juri) des Europaparlaments über die Aufhebung der parlamentarischen Immunität von Salis ab. Die endgültige Entscheidung fällt dann in einer Plenarsitzung des Parlaments, voraussichtlich in der ersten Oktoberwoche. Jedoch hat sich das Plenum noch nie über das Votum des Komitees für rechtliche Fragen hinweggesetzt.
Der Antrag selbst geht zurück auf die Initiative Ungarns, dessen Regierung Ilaria Sales den Prozess machen und die 41-jährige Gundschullehrerin aus Monza in Budapest hinter Gittern sehen will. Kürzlich hat Orbáns Sprecher Zoltán Kovács ihr als Drohung auf X die Koordinaten eines ungarischen Gefängnisses geschickt. Seit dem 10. Oktober 2024 liegt ein formaler Antrag vor, ihre Immunität aufzuheben.
An der Kette in den Gerichtssaal
Ilaria Salis hatte 2023 an einer Protestaktion gegen eine Gedenkparade von Neonazis und SS-Nostalgikern in Budapest teilgenommen und dafür bereits 15 Monate in Ungarn unter unmenschlichen Bedingungen im Gefängnis gesessen. Die Bilder, wie sie mit Handschellen sowie einem Ledergurt um die Hüfte, an dem eine Kette befestigt war, auf die Anklagebank geführt wurde, gingen um die Welt. »Für Vergehen, die anderswo als geringfügig gelten, könnte ich zu 24 Jahren harter Haft verurteilt werden«, sagte sie.
Die ungarische Generalstaatsanwaltschaft erhob im »Budapest-Komplex« weitere Anklagen gegen ausländische Staatsangehörige, darunter die Thüringer Antifaschist*in Maja T. Die nonbinäre Aktivist*in war im Sommer 2024 in einer Nacht- und Nebelaktion mit einem Polizeihubschrauber aus einem Gefängnis in Dresden nach Ungarn gebracht worden, nachdem das Berliner Kammergericht einem ungarischen Auslieferungsgesuch stattgegeben hatte. Tags darauf jedoch erklärte das Bundesverfassungsgericht die Auslieferung für rechtswidrig – da saß Maja T. bereits in Haft in Ungarn. T. sitzt weiter in Haft, war zwischenzeitlich sogar in Hungerstreik getreten. Ilaria Salis hatte mehr Glück: Die Wahl zur Europaabgeordneten auf der Liste der italienischen Grüne-Links-Allianz (AVS) war ihre Rettung.
Misshandlungen in ungarischen Gefängnissen
Die Verhältnisse in ungarischen Gefängnissen gelten weithin als menschenunwürdig. Angeklagten würden rechtsstaatliche Garantien vorenthalten, hatte Ilaria Salis nach ihrer Freilassung betont. Im Dezember hat das Europäische Komitee zur Verhütung von Folter und unmenschlicher oder erniedrigender Behandlung (CPT) des Europarats die Haftbedingungen in ungarischen Gefängnissen in einem Bericht scharf kritisiert. Eine Delegation hatte dafür in Ungarn Zellen im Polizeigewahrsam, Gefängnisse sowie psychiatrische Einrichtungen in Augenschein genommen. Das Ergebnis: Es gibt glaubwürdige Hinweise auf körperliche Misshandlungen durch das Personal: Schläge, Tritte und Prügel mit Schlagstöcken. Diese Misshandlungen hätten häufig in von Überwachungskameras ausgesparten Bereichen stattgefunden. Verletzungen seien nicht dokumentiert, Beschwerden teilweise über ein Jahr lang nicht bearbeitet worden.
Verständlich, dass Ilaria Salis nicht wieder in die Fänge der ungarischen Justiz geraten will. Sie setzt darauf, dass die 25 Mitglieder der Kommission, zusammengesetzt gemäß den Mehrheitsverhältnissen im Parlament, auch diesen Fakten Rechnung tragen: »Ich bekräftige mein Vertrauen in die Kollegen, die im Juri über den Bericht des mit meinem Fall betrauten Berichterstatters entscheiden sollen.« Beim Berichterstatter handelt es sich laut der italienischen Tageszeitung »Il Manifesto« um den spanischen Abgeordneten Adrián Vázquez Lázara, der auf der Liste von Ciudadanos gewählt wurde und Mitglied der Volkspartei ist, die, so »Il Manifesto«, offenbar die Aufhebung der Immunität beantragen wolle.
»Keine fairen Prozesse in Ungarn«
Martin Schirdewan, Ko-Vorsitzender der Gruppe Die Linke im Europaparlament, betonte kürzlich auf X, dass es in Ungarn keine fairen Prozesse mehr gebe und daher niemand nach Ungarn ausgeliefert werden dürfe. »Alle, denen Rechtsstaatlichkeit am Herzen liegt, müssen gegen die Aufhebung von Ilarias Immunität stimmen«, schrieb Schirdewan, eine Entscheidung »für oder gegen demokratische Werte«.
Nach der Erschießung des ultrarechten US-Aktivisten und Trump-Unterstützers Charlie Kirk sieht die ungarische Regierung offenbar einen günstigen Moment, antifaschistischen Protest für strafbar zu erklären. So hat der ungarische Außenminister Peter Szijjarto die Europäische Union aufgefordert, die linke Antifa-Bewegung nach dem Vorbild der US-Regierung als »terroristisch« einzustufen. Dieses »gewalttätige linksextreme Netzwerk« habe »brutale Angriffe in ganz Europa verübt, darunter auch in Budapest«, schrieb Szijjarto in einem im Onlinedienst X veröffentlichten Brief an die EU-Außenbeauftragte Kaja Kallas.
Auslieferung an Ungarn könnte fatal sein
»Zu unserem großen Bedauern entgingen die Verdächtigen danach der Justiz, indem sie in EU-Staaten Unterschlupf fanden«, beklagte der ungarische Außenminister. Als Beispiel nannte er Ilaria Salis.
Für die italienische Europaabgeordnete könnte eine Auslieferung nach Ungarn fatal sein: »Wenn meine parlamentarische Immunität aufgehoben würde, würde ich Gefahr laufen, erneut verhaftet und in Ungarn inhaftiert zu werden.« Sie erwartet dann einen Schauprozess in einem Land, »in dem die Justiz nicht unabhängig ist und der Regierungschef mich bereits vor dem ersten Urteil für schuldig erklärt hat«. Salis spricht von einem »Akt der Vergeltung, motiviert durch meine politischen Ansichten und im Dienste der Propaganda eines autoritären Regimes, das in offener Missachtung der Grundwerte der Europäischen Union sich selbst als ›illiberale Demokratie‹ bezeichnet«.
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