Jules El-Khatib: »Diese Solidarität verändert uns alle«

Der Rheinländer Jules El-Khatib über zwei Jahre Staatsräson und neue Verbündete

Palästina – Jules El-Khatib: »Diese Solidarität verändert uns alle«

Andere Palästinenser hätten es in den vergangenen zwei Jahren schwerer gehabt, betont Jules El-Khatib gleich zu Beginn des Gesprächs. »Ich wurde in einige Medien eingeladen, um dort über meinen Schmerz zu reden. Die meisten Palästinenser*innen dagegen haben die Erfahrung gemacht, dass für ihre Perspektive kein Platz ist.«

Für den 33-jährigen El-Khatib, der an einer Hochschule im Ruhrgebiet Sozialarbeit unterrichtet und an seiner Doktorarbeit schreibt, ist die Ungleichbehandlung offenkundig. »In Deutschland haben wir die größte palästinensische Diaspora Europas. Trotzdem hat sich uns gegenüber kein einziger Bürgermeister, kein Minister solidarisch gezeigt. Und in den Medien wird die Situation in Gaza wie eine Naturkatastrophe dargestellt – dabei werden die Menschen dort gezielt ausgehungert und ermordet.« Besonders schockierend für ihn sei gewesen, als Polizisten auf einer Veranstaltung Gedenkkerzen austraten. »Wir machen ständig die Erfahrung, dass das Leben von Palästinensern weniger zählt als das anderer Menschen.«

Offiziell ist El-Khatib Deutsch-Israeli. Der Vater, der in der palästinensischen Linken aktiv war, emigrierte nach Deutschland, nachdem er in Israel in »Administrativhaft« gesessen hatte – eine Inhaftierung ohne Anklage, die von israelischen Gerichten unbegrenzt verlängert werden kann. Weil auch El-Khatibs deutsche Mutter politisch interessiert war, fand er als Jugendlicher zur Linken. Zehn Jahre lang war er Mitglied in der Partei, vorübergehend auch Landesvorsitzender in Nordrhein-Westfalen.

Jules El-Khatib

Jules El-Khatib ist Hochschullehrer und Mitinitiator der Demonstration »All Eyes on Gaza«.

Zu seiner Familie befragt, beginnt El-Khatib sofort eine Fluchtgeschichte zu erzählen. »Das Dorf meines Vaters wurde drei Monate vor Kriegsbeginn 1948 zerstört. Mein Großvater floh in die Nähe von Nazareth, ein Großteil seiner Geschwister nach Gaza, das damals eine reiche Handelsstaat war.« Wie viele palästinensische Familien wurden auch die El-Khatibs durch die Nakba, die Vertreibung 1948, in alle Welt zerstreut. »Von den Verwandten in Gaza sind inzwischen mindestens 20 Angehörige von Israel ermordet worden. Der erste war ein Großcousin im November 2023. Seitdem ist alle paar Wochen jemand gestorben.«

Dabei sei die Gewalt, anders als in Deutschland oft behauptet, nicht erst am 7. Oktober 2023 eskaliert. »In den ersten neun Monaten des Jahres 2023 wurden 600 Palästinenser von israelischen Militärs oder Siedlern getötet«, sagt er. »Die Lage der Palästinenser*innen war auch schon vor dem Ausbruch des Gazakriegs verzweifelt.«

Aber wie ist eigentlich die Situation palästinensischer Israelis? »Wer die Staatsangehörigkeit besitzt, wird nicht einfach erschossen – wie es in den besetzten Gebieten leider Alltag ist«, erklärt El-Khatib. »Doch die Ungleichbehandlung ist trotzdem enorm. Als Kind dachte ich immer, Israel sei ein sehr armes Land – weil es in den palästinensischen Ortschaften kaum Infrastruktur gibt. In dem Dorf, aus dem die Familie meines Vaters stammt, gibt es eine der höchsten Quoten an ausgebildeten Ärzten pro Bevölkerung, aber keine asphaltierten Straßen. Und über jeder palästinensischen Ortschaft liegt eine jüdische Siedlung – von der die Bewohner im Notfall herunterschießen können.«

»Es kann niemals antisemitisch sein, gegen Menschenrechtsverletzungen zu protestieren.«

Jules El-Khatib  Hochschuldozent

Auf die umstrittenen Vergleiche Israels mit dem Apartheid-Regime in Südafrika angesprochen, bemüht sich der Rheinländer um eine differenzierte Antwort. Was die Behandlung der Bevölkerung im Westjordanland angehe, seien sich Experten einig, dass der Begriff Apartheid berechtigt sei. Für die Menschen in Israel sei es komplexer. »Es gibt seit 2019 Gesetze, die es Israelis mit arabischer Herkunft untersagen, in jüdische Ortschaften umzuziehen. Und auch in anderer Hinsicht unterscheidet der israelische Staat ganz offiziell zwischen Juden, Araber und Drusen. Dass Menschen mit derselben Staatsbürgerschaft nicht dieselben Rechte besitzen, hat man in den vergangenen 50 Jahren eigentlich nur in einem Land erlebt, nämlich in Südafrika«, erklärt El-Khatib. Insofern weise Israel durchaus Merkmale eines Apartheid-Regimes auf. »Aber es gibt natürlich auch wichtige Unterschiede: In Israel kann man zum Beispiel immer noch auf gemeinsame Schulen gehen, auch wenn Rassismus und Diskriminierung Alltag sind. Und auch Arbeitsverbote gibt es für Palästinenser nur im militärischen und in einigen industriellen Bereichen.«

Trotzdem unterscheide sich die Realität der drei Bevölkerungsgruppen enorm. »Die Aufklärungsrate von Morden liegt in jüdischen Communitys bei 95 Prozent, in palästinensischen bei unter zwanzig«, sagt El-Khatib und verweist auf Gaza, wo die israelische Armee unlängst sogar kriminelle Banden mit Waffen ausrüstete, um die Bevölkerung kontrollieren zu können. »Außerdem gibt es große Unterschiede bei der Finanzierung sozialer Infrastrukturen. Für Schulen in palästinensischen Vierteln gibt Israel beispielsweise nur ein Viertel dessen aus, was für Schulen in jüdischen Ortschaften vorgesehen ist.«

Hat sich sein Blick auf jüdische Israelis mit dem Gazakrieg verändert, will ich wissen. »Mit der Mehrheitsgesellschaft, die rechts wählt, verbindet mich nichts«, sagt er. »70 Prozent der Israelis befürwortet die ethnische Säuberung des Gaza-Streifens. Mit solchen Menschen will ich nichts zu tun haben – das sind Rassisten. Aber kein palästinensischer Abgeordneter war in der Knesset so mutig wie Ofer Cassif – ein jüdischer Israeli. Und auch die jungen Menschen, die lieber in den Knast gehen, als sich als Soldaten am Genozid zu beteiligen, machen mir Mut.«

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Überhaupt seien mit dem Krieg neue Bündnisse entstanden. »Unsere verlässlichsten Partner sind heute progressive Jüdinnen und Juden. In Berlin wurden antizionistische Juden von der Polizei verprügelt, in den USA haben Organisationen wie Jewish Voice for Peace das Kapitol blockiert. Was wir bei ihnen an Empathie und Nächstenliebe gespürt haben, ist unglaublich.« Auch die queere Bewegung erwähnt El-Khatib. »Viele von ihnen waren auf der Straße und haben allen, die vom Genozid betroffen sind – nicht nur den progressiven Palästinensern –, ihre Solidarität gezeigt. Das hat ihnen sicherlich Überwindung gekostet. Aber diese Art von Solidarität verändert uns alle. Wenn man zusammen für Gerechtigkeit kämpft, baut das Vorurteile massiv ab.«

Auf einmal klingt der 33-Jährige fast ein wenig enthusiastisch. »Auf Palästina-Demos sieht man heute keine saudischen oder ägyptischen Fahnen mehr, sondern Symbole des Internationalismus, Friedensfahnen, Banner jüdischer Organisationen.« Trotz allen Leids könne das die Geburt einer internationalistischen Bewegung sein, meint er.

Und welche Rolle hat die deutsche Linke gespielt? Der ehemalige nordrheinwestfälische Landesvorsitzende ringt um eine Antwort. »Es gibt wichtige Ausnahmen, aber die meisten haben sich nicht getraut, eine klare Position zu beziehen – aus Angst, als Antisemiten bezeichnet zu werden.« Für El-Khatib war das Ausdruck mangelnder Zivilcourage. »Es kann niemals antisemitisch sein, gegen Menschenrechtsverletzungen zu protestieren«, sagt er. Dass führende deutsche Linke noch auf Pro-Israel-Demonstrationen sprachen, als schon Tausende in Gaza ermordet worden waren, macht ihn immer noch fassungslos.

Unter Generalverdacht

Verbote palästinensischer Symbole und Veranstaltungen gibt es nicht erst seit dem Hamas-Angriff im Oktober 2023. Bereits eineinhalb Jahre zuvor untersagte die Berliner Polizei mehrere Kundgebungen zum Gedenken an die Vertreibung der Palästinenser 1948.
Mit der Eskalation des Gazakriegs hat der Druck allerdings deutlich zugenommen. Nachdem ein Jugendlicher im Tumult wegen einer Palästina-Fahne von einem Lehrer geschlagen worden war, genehmigte die Berliner Bildungssenatorin – gewissermaßen rückwirkend – das Verbot palästinensischer Symbole durch Schulleitungen.
Das war kein Einzelfall: Palästinasolidarische Äußerungen wurden bundesweit unterbunden, in Hamburg kam es gar zu einem »dreiwöchigen Totalverbot« für propalästinensische Versammlungen. Zudem sind palästinasolidarische Demonstrationen regelmäßig mit extremer Polizeigewalt konfrontiert. Videos in sozialen Medien zeigen unverhältnismäßig viele Schmerzgriffe, Gewalt gegen Kinder und Senioren sowie gezielte Schläge ins Gesicht.
Es war nicht zuletzt das damals SPD-geführte Bundesinnenministerium, das der Polizei die Mittel hierfür an die Hand gab. Mit dem Verbot der Parole »From the River to the Sea« lieferte Innenministerin Nancy Faeser einen Freifahrtschein für Angriffe auf Demonstrationen. Allein in Berlin wurden seit Oktober 2023 etwa 10 000 Ermittlungsverfahrungen eröffnet – viele von ihnen wegen des mutmaßlichen Rufens von Parolen. Vor Gericht hat das Verbot nicht immer Bestand. Im Juli 2025 wurde eine Angeklagte in Berlin freigesprochen, weil sich das Gericht der Argumentation anschloss, die Parole »From the River to the Sea« sei keineswegs pauschal der Hamas zuzuordnen.
Die Staatsräson treibt dennoch weiter Blüten: Anfang 2025 wurde eine Demonstration in Berlin aufgelöst, weil die Polizei nur englisch- oder deutschsprachige Redebeiträge autorisiert hatte, sich Redner aber auf Hebräisch und Arabisch geäußert hatten. Auch Hochschulproteste wurden systematisch kriminalisiert: In mehreren Städten räumte die Polizei, teilweise gegen den Willen der Universitätsleitungen, Studierenden-Camps. Als sich 1000 Hochschullehrer in einer Erklärung gegen dieses Vorgehen aussprachen, prangerte die »Bild«-Zeitung die Unterzeichner als Sympathisanten des »Judenhasser-Mobs« an. Und FDP-Bildungsministerin Bettina Stark-Watzinger ließ prüfen, ob das Ministerium den Unterzeichnern staatliche Forschungsgelder entziehen könne.
Normalisiert ist mittlerweile auch, dass der Staatsschutz mit massiven Polizeikräften zu Veranstaltungen anrückt, um diese jederzeit abbrechen zu können – so geschehen im Februar 2025, als mehrere Berliner Professoren die UN-Berichterstatterin Francesca Albanese zu einem Vortrag eingeladen hatten. Auch der Verlust von Aufenthaltsgenehmigungen gehört zur Repressionspraxis. Wie viele Menschen ihren Aufenthalt wegen der Teilnahme an Palästina-Demonstrationen tatsächlich verloren haben, ist bislang nicht erfasst. Doch im Frühjahr 2024 wurden vier Universitätsbesetzer – aus Irland, Polen und den USA – zur Ausreise aufgefordert. Die Union debattierte zudem die Aberkennung der deutschen Staatsbürgerschaft wegen antiisraelischer Positionen – was die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch scharf kritisierte. 
Zum Drohszenario gehören schließlich auch Kündigungen. Der »SWR« entließ die Moderatorin Helen Fares, weil diese den Boykott Israels unterstützt. Das Historische Museum in Frankfurt untersagte dem Museums-Guide Daniel Shuminov Führungen durchzuführen, nachdem er an einem Protestcamp teilgenommen hatte. Und erst vor wenigen Tagen wurde ein Frachtarbeiter in Leipzig »freigestellt«, weil er in einer Rede dazu aufgerufen hatte, Waffenlieferungen an Israel am Flughafen zu blockieren.
Jule Meier

Und was ist mit der innerpalästinensischen Entwicklung? Als linkem Palästinenser müsse ihm das Erstarken der Hamas doch auch Sorgen machen. »Für uns geht es im Augenblick nur darum, den Genozid zu beenden«, sagt El-Khatib. »Alle politischen Konflikte sind demgegenüber in den Hintergrund getreten. Ich glaube allerdings auch nicht, dass die palästinensische Gesellschaft so weit nach rechts gerückt ist.« Wenn Israel Marwan Barghouti, der ein linker Sozialdemokrat sei, aus der Haft entlassen und Wahlen zulassen würde, würde Barghouti sie gewinnen, gibt sich El-Khatib überzeugt. »Die Stärke der Hamas bei den letzten Wahlen, vor fast 20 Jahren, beruht auf dem Scheitern des Oslo-Prozesses und dem teilweise unnachvollziehbaren Verhalten der Autonomiebehörde.« Die palästinensischen Autoritäten unternähmen nichts gegen die Willkür der Siedler und hätten die Bevölkerung dadurch in die Arme der Hamas getrieben. »Im Westjordanland übrigens noch stärker als in Gaza.«

Aber wird die Hamas von Teilen der Palästina-Solidarität nicht regelrecht gefeiert, wende ich ein und verweise auf die Verwendung roter Dreiecke in sozialen Medien. »Gewalt gegen Zivilisten ist für mich absolut inakzeptabel«, stellt El-Khatib klar. »Aber ich habe nicht den Eindruck, dass die Gewalt in der palästinensischen Community gefeiert oder romantisiert wird. In der Diaspora beobachte ich eigentlich nur Verzweiflung.«

Es dauert über eine Stunde, bis wir auf die obligatorische Frage nach möglichen Auswegen aus dem Nahostkonflikt zu sprechen kommen. »In Verteidigung der Zweistaatenlösung muss man wohl sagen, dass heute leider alle Lösungen unrealistisch erscheinen«, antwortet El-Khatib. »Jeder positive Ansatz – Zweistaatenlösung, Ein-Staat-Lösung, Konföderation, demokratische Union – ist heute schwer vorstellbar. Das Einzige, was realistisch erscheint, ist die Zerstörung Palästinas.«

Also sei er nicht mehr von dem gemeinsamen laizistischen Staat für alle überzeugt, den die palästinensische Linke einst propagierte? »Das war vielleicht ein aussichtsreiches Vorhaben, als der Hass noch nicht so groß war«, sagt El-Khatib. »Aber wie soll das heute funktionieren, wo 70 Prozent der Israelis den Palästinensern das Lebensrecht absprechen? Umgekehrt aber kann die Idee, dass Nationalstaaten ethnisch homogen sein sollten, nirgends in der Welt progressiv sein. Weder in Deutschland noch in Palästina.« Wahrscheinlich sei es für solche Debatten einfach der falsche Augenblick, schiebt er nach einer Pause hinterher. »Heute geht es darum, den Massenmord zu stoppen und die Menschenrechte für Palästinenser wieder durchzusetzen.«

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