Berlin-Tegel: Bewegungsfreiheit statt Isolation

Antirassistische Karawane protestiert zehn Jahre nach dem »Sommer der Migration« für mehr Rechte für Geflüchtete

Gegen Grenzen und für Bewegungsfreiheit zog eine Karawane mit Geflüchteten und Unterstützer*innen durch Ostdeutschland nach Berlin.
Gegen Grenzen und für Bewegungsfreiheit zog eine Karawane mit Geflüchteten und Unterstützer*innen durch Ostdeutschland nach Berlin.

»Willkommen« steht auf einem großen Schild am Eingang des ehemaligen Flughafens Tegel. Hinter einer Absperrung sind die Gebäude gut zu sehen. Mit dem Schild wurden die Menschen begrüßt, die täglich dort in den Flieger stiegen oder landeten. Für die etwa 150 Menschen, die sich dort am Freitagnachmittag zu einer Kundgebung versammelt haben, ist der Willkommensgruß auf dem Schild ein Zeichen von Zynismus. Denn für die circa 2000 Menschen, die in der Geflüchteteneinrichtung leben müssen, gilt der Gruß nicht. Das wurde in zahlreichen Reden der Menschen deutlich, die dort gelebt haben.

Die Bewohner seien gezwungen, dort unter unmenschlichen Bedingungen zu leben, berichtet Evren Alan, der drei Monate in der Tegeler Unterkunft verbringen musste. »Die besonderen Bedürfnisse von Kindern, Frauen und LGBTQ werden ignoriert«, sagt Alan und beendete seinen Beitrag mit scharfer Kritik an der Leitung der Unterkunft.

Auch Wadislaw kann keine positiven Dinge über die Tegeler Unterkunft berichten, in der der queere Geflüchtete aus der Ukraine fünf Monate leben musste. »Die meisten Berliner*innen wissen nicht, was hier im Lager Tegel passiert. Wenn ich ihnen von den Lebensbedingungen hier erzähle, sind sie wirklich überrascht«, sagt Wadislaw. Er konnte die Unterkunft mittlerweile verlassen und versucht nun, Menschen zu sensibilisieren, in dem er über diese Zustände berichtet. Schließlich kennt er Geflüchtete, die zwei Jahre und länger dort zubringen mussten.

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Die Mehrheit der Kundgebungsteilnehmer*innen am Freitagnachmittag ist Teil der Karawane für Bewegungsfreiheit des antirassistischen Netzwerks »We’ll come united«. Sie startete am 20. September in Thüringen und ist am Freitag auf ihrer letzten Etappe in Berlin angekommen. »Mit unseren Aktionen vor Lagern und Abschiebeknästen wollen wir gegen die zunehmenden Einschränkungen von Geflüchteten protestieren«, sagt Muna Abdi vom Presseteam der Karawane zu »nd«.

Abdi hat in Somalia als Journalistin gearbeitet. 2024 beantragte sie in Deutschland Asyl. Seitdem setzt sie ihre journalistischen Kenntnisse für die Selbstorganisation von Geflüchteten ein. So veröffentlicht Abdi in der Tageszeitung »Taz« ein Karawane-Tagebuch über die einwöchige antirassistische Aktion. Gegenüber »nd« betont Abdi, dass die Karawane sich sowohl gegen das Wachsen der AfD und anderer rechter Gruppen als auch gegen die Einschränkung von Rechten der Geflüchteten durch die Regierungsparteien positioniert. So wurde in einem Redebeitrag die Einführung der Bezahlkarte für Geflüchtete kritisiert, die ihre Rechte beschneidet. Eine Vertreterin der Initiative gegen die Bezahlkarten rief zu Tauschaktionen auf, dank derer Geflüchtete dann doch über Bargeld verfügen.

Auf dem Kundgebungsplatz war ein Spielplatz für die Kinder der Unterkunft aufgebaut. Die Resonanz der Geflüchteten in Tegel auf die Kundgebung hielt sich aber in Grenzen. Ob und unter welchen Bedingungen es den Bewohner*innen möglich war, an der Kundgebung teilzunehmen, stellt Abdi in Frage.

»Die meisten Berliner*innen wissen nicht, was hier im Lager Tegel passiert. Wenn ich ihnen von den Lebensbedingungen hier erzähle, sind sie wirklich überrascht.«

Wadislaw Geflüchteter

Nach fast vier Stunden geht die Kundgebung mit einem künstlerischen Akt von Wizzy, einem syrischen Songwriter, Performer und Aktivisten für Queer Syria, zu Ende. Er macht darauf aufmerksam, dass Tegel in ein sogenanntes Geas-Ankunftszentrum für die Schnellverfahren nach dem neuen EU-Asylsystem umgewandelt werden soll. Die Aktivist*innen befürchten, dass Geflüchtete dort zu haftähnlichen Bedingungen untergebracht werden sollen. Dagegen richtet sich der Widerstand von Geflüchteten und ihren Unterstützer*innen.

Im Anschluss an die Kundgebung fuhr die Karawane zum Oranienplatz in Kreuzberg, wo die Antirassist*innen zelteten. Am Samstag organisierten sie dort eine Parade. Die Karawane erinnerte an den »Marsch der Hoffnung« 2015. Damals sind Tausende Geflüchtete von Budapest zu Fuß nach Wien gelaufen, viele von ihnen gelangten so nach Deutschland. Außerdem hält das Protestcamp den Oranienplatz als Ort des Widerstands lebendig. Im Jahr 2012 besetzten Geflüchtete aus der ganzen Republik den Platz, um für ihre Rechte zu kämpfen. Daran wollen die Antirassist*innen anknüpfen.

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