Gabriele Stötzer: Wenn auch nur eine aufsteht

Gabriele Stötzer, Aktivistin, Feministin und Künstlerin, über ihre Erfahrungen in der DDR und danach

Gabriele Stötzer bildet 1990, nach ihrer ersten Reise nach Rom, den »Bocca della Verità« (Mund der Wahrheit) an der Kirche Santa Maria in Cosmedin nach: »Ich finde das in einer Zeit, wo nach Wahrheit gerungen wird und die Lüge salonfähig ist, sehr passend.«
Gabriele Stötzer bildet 1990, nach ihrer ersten Reise nach Rom, den »Bocca della Verità« (Mund der Wahrheit) an der Kirche Santa Maria in Cosmedin nach: »Ich finde das in einer Zeit, wo nach Wahrheit gerungen wird und die Lüge salonfähig ist, sehr passend.«

Frau Stötzer, was machen Sie am 3. Oktober – feiern Sie oder stehen Sie an Ihrer Staffelei?

Am 3. Oktober werde ich in Erfurt in der Andreasstraße sein, in dem Gebäude, in dem sich die Untersuchungshaftanstalt der Stasi befand und in der auch ich einsaß. Ich werde an einer Veranstaltung von Freiheit e. V. teilnehmen, einem Verein ehemaliger politischer Gefangener in der DDR, bei dem ich Mitglied bin. Da wird um 17 Uhr der Dokumentarfilm von Torsten Körner »Die Unbeugsamen 2« gezeigt, mit Lebensgeschichten von Frauen in der DDR, darunter auch von mir. Anschließend gibt es eine Podiumsdiskussion

Podiumsdiskussion mit der Schriftstellerin Katja Lange-Müller und mir.

Katja Lange-Müller war die Tochter von Inge Lange, eine der wenigen Frauen in der Führungsspitze der SED, Kandidatin des Politbüros. Katja Lange-Müller reiste 1984 nach Westberlin aus. Sie selbst wollten nie in den Westen ausreisen?

Nein. Obwohl man mich gefragt hat und der Druck zu gehen immer größer wurde. Aber ich habe schon 1982 eine Postkarte gemacht, auf der steht: »Und das Bleiben ist auch eine Entscheidung, die Weigerung zu gehen.« Daran habe ich mich immer gehalten.

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Würden Sie meinen Eindruck teilen, dass die Akteure und vor allem Akteurinnen von 1989, ohne die es nicht oder nicht zur Vereinigung der beiden deutschen Staaten gekommen wäre, oder nicht so rasch, heute mehrheitlich vergessen sind? Zwar Bundesverdienstorden erhalten, wie Sie, aber keine führenden gesellschaftlichen Positionen einnehmen.

Na ja, wir sind alle danach unterschiedliche Wege gegangen. Wir sind in eine dramatische Zeit geworfen worden, haben das Unsere getan. Wir waren in dieser kurzen Zeit der Utopien wie elektrisiert, standen unter Strom, wie man so sagt. Die einen haben auf dem hohen Energielevel weitergelebt, bei anderen war der Akku dann leer. In Erfurt waren jedenfalls Frauen schon sehr früh aktiv. Als sich die meistens durch Männer vertretenen neuen Bewegungen, Neues Forum und Demokratischer Aufbruch, in der DDR formierten, gründeten wir am 2. Oktober1989 in Erfurt die Thüringer Bürgerinneninitiative »Frauen für Veränderung«. Zwei Monate vor der Gründung des Unabhängigen Frauenverbandes in Berlin.

Die Frauen der »Provinz«, salopp gesprochen, schritten voran?

Interview

Gabriele Stötzer, Jahrgang 1953, ist wegen ihres Protestes gegen die Biermann-Ausbürgerung 1976 zu einem Jahr Haft verurteilt worden, war in den 80er Jahren Leiterin einer privaten Kunstgalerie, Mitbegründerin einer alternativen Künstlerinnengruppe in Erfurt sowie der oppositionellen Gruppe »Frauen für Veränderung« und Mitinitiatorin der ersten Besetzung einer Dienststelle des MfS in der DDR, am 4. Dezember 1989 in Erfurt. Sie verfasste mehrere Bücher, hat als Fotokünstlerin mehrere Ausstellungen bestritten und ist derzeit »Mit Hand & Fuss, Haut & Haar« im Muzeum Susch in der Schweiz zu sehen.

Das kann man so sagen. Auch jetzt haben wir in Erfurt mehr Frauenorganisationen und Frauenhäuser als in anderen deutschen Städten. Wir Frauen haben uns einen beachtlichen Platz erkämpft. Das rührt auch noch von damals her. Wir zeigen uns und bekommen Unterstützung.

Sie haben schon sehr früh versucht mitzureden. Als Studentin an der Pädagogischen Hochschule Erfurt.

Ich war zwei Jahre älter als die meisten meiner Kommilitonen und Kommilitoninnen, die direkt von der EOS zum Studium kamen. Ich durfte nicht Abitur machen, meine Eltern waren dagegen: »Lerne erst mal einen Beruf.« Sie wollten, dass ich schnell eigenes Geld verdiene, selbstständig werde. Ich hatte noch drei Geschwister. Mein Vater war Werkzeugmacher, meine Mutter Buchhalterin in der LPG und beim Bürgermeister. Mutti kam aus Dortmund, aus dem Ruhrpott, gegen Ende des Krieges, als 16-Jährige. Dortmund war ausgebombt. Sie hatte dort das Gemeinschaftsgefühl der Kumpel verinnerlicht, man steht zusammen, hilft einander. Das gilt auch und gerade für die Familie. Man muss sich aufeinander verlassen können. Mir war aber und ist auch heute noch Bildung sehr wichtig.  

Sie haben sich durchgesetzt, über einen kleinen Umweg.

Ich habe eine Ausbildung zur Medizin-Technischen Assistentin gemacht und danach das Abitur an der Abendschule. An der Pädagogischen Hochschule empfand ich mich als unterfordert. Anderen ging es ähnlich. Wir sollten lernen, was wir als Lehrer zu lehren hätten. Wir wollten uns aber mit eigenen Ideen einbringen. Es hieß ja in der DDR: »Arbeite mit, plane mit, regiere mit!« Wow. Das haben wir wörtlich genommen. Aber es war wohl nicht so gemeint. Es wurde uns jungen Leuten abgesprochen, eigene Fragen zu stellen. Und das war fast überall so an den anderen Universitäten und Hochschulen. Wir haben Hermann Hesse, Erich Fromm und Robert Havemann gelesen, Bücher ausgetauscht, Biermann-Lieder zur Klampfe gesungen, Gedichte geschrieben und sehr, sehr viel diskutiert. Es ging immer auch darum, wie drücken wir aus, was wir fühlen. Das war Neuland. Wir haben uns nicht damit begnügt, zwischen den Zeilen des »Neuen Deutschland« zu lesen. Wir hatten Kontakte zu anderen Hochschulen in Weimar, Ilmenau und Jena, so zu Jürgen Fuchs, der uns von seinen Freunden Wolf Biermann und Robert Havemann erzählte. Und ich habe nicht nur diskutieren, sondern auch etwas tun wollen.

1970 schrieben Sie einen Brief an Margot Honecker, die Volksbildungsministerin, geschrieben. War das nicht naiv?

Ich weiß nicht, ob »naiv« das richtige Wort ist. Es war selbstverständlich in der DDR, dass Bürger und Bürgerinnen an Erich Honecker schrieben, wenn das Unrecht zu groß war, Kinder von Intellektuellen oder Pfarrern nicht Abitur machen und studieren durften oder wenn es an Baumaterial und anderen Dingen fehlte.

Ich habe auch eine Eingabe an E. H. geschrieben.

Warum?

Wegen einer nass-feuchten Hinterhofwohnung im Prenzlauer Berg, aus der ich rauswollte.

Und haben Sie eine neue Wohnung gekriegt?

Ja, sogar Erstbezug in Marzahn. Übrigens auch eine Kuriosität des DDR-Alltags: Da sich eine Bronchitis bei meinem halbjährigen Sohn festzusetzen drohte und ich auf der Wohnungsliste meines Arbeitgebers ganz hinten stand, riet mir die Ärztin bei der Mütterberatung: »Wechseln Sie den Beruf, gehen Sie zum Zoll, da kriegen Sie sofort eine Wohnung!« Sie hatte es gut gemeint.

Ich schrieb aber nicht an Erich Honecker, sondern bewusst an Margot Honecker, weil ich glaubte, sie würde uns als Frau verstehen. Es ging um den Artikel eines Kommilitonen, der nicht in der Hochschulzeitung erscheinen durfte. Er wurde dann in den Seminar- und FDJ-Gruppen vorgelesen. Damals war auch in der DDR der US-Film »Blutige Erdbeeren« zu sehen, der uns ein Gefühl von internationaler Identität gab.

Jugendliche kämpfen für die Demokratisierung, für Mitbestimmungsrecht an ihrer Universität.

Da wird die unterdrückende Autorität kritisiert, was wir auch kritisiert haben. In dem Artikel des Kommilitonen, der dann exmatrikuliert wurde, ging es genau darum.

Sie erhielten nicht die erhoffte Unterstützung von der Volksbildungsministerin, im Gegenteil.

Sie hat den Brief schon ernst genommen. Ich glaube, sie hat da erst mitbekommen, dass es eine Studentenbewegung in Thüringen gibt. An allen Unis brodelte es. Aber es wurde von unten nach oben gelogen und schöngefärbt. Margot Honecker dürfte erstaunt und erschrocken gewesen sein.

Ich habe den Brief geschrieben, weil ich eine Schreibmaschine hatte. Wir haben 83 Unterschriften gesammelt. Das hat für großes Aufsehen gesorgt. Die Unterzeichner des Briefes wurden erpresst, ihre Unterschrift zurückzuziehen oder von der Hochschule zu gehen. Und da habe ich eine Entsolidarisierung erlebt, die sehr enttäuschend war. In der Mensa und auf dem Campus wandte man sich ab, wenn wir kamen. Das hat man mit Erpressung erreichterreicht, bis nur noch unsere Seminargruppe übrigblieb. Der Vater einer Kommilitonin beispielsweise sollte Chef einer Klinik werden. Man drohte ihr, dass daraus nichts werde, wenn sie sich nicht distanzierte. Ich wurde dann in einem gesonderten Verfahren exmatrikuliert, und in einer sofort danach folgenden FDJ-Aktivtagung musste sie sich als Erste distanzieren, und dann die Nächste und die Nächste. Eine andere tat das aber nicht. Sie war gerade geschieden, hatte ein Kind und sagte, obwohl sie wusste, dass sie dann exmatrikuliert wird: »Ich distanziere mich nicht.« Dann ist die Zweite aufgestanden: »Ich auch nicht.« Und die Nächste wurde gar nicht mehr gefragt. Das war großartig. Manchmal reicht es schon, wenn eine oder einer aufsteht, um ein Zeichen zu setzen. Letztlich aber entscheidet jeder für sich.

Im gleichen Jahr wurden Sie verhaftet und zu einer einjährigen Gefängnisstrafe verurteilt.

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Das war wegen der Biermann-Ausbürgerung im November 1976. Ich habe als Studentin Unterschriften für die Freilassung des Komponisten und Widerstandskämpfers Mikis Theodorakis gesammelt, der von der griechischen Militärdiktatur inhaftiert und schwer gefoltert worden war. Und als jetzt Biermann die Rückreise in die DDR verboten wurde, war ich selbstverständlich auch dagegen. Jedes Volk braucht seinen Sänger oder einen Künstler, der das ausspricht, wofür wir selber manchmal keine Worte haben. Ich habe also wieder ein Protestschreiben auf meiner Schreibmaschine getippt. Ein Freund konnte in Erfurt 20 Unterschriften einsammeln. Als ich aufbrechen wollte, um unsere Petition nach Berlin zu bringen, wurde ich von der Stasi abgeholt ... Ich sollte dann ein Dokument mit dem Titel »Tätige Reue« unterzeichnen. Das tat ich nicht. Nach fünf Monaten U-Haft wurde ich wegen »Staatsverleumdung« verurteilt und kam ins Frauengefängnis Hoheneck bei Stollberg in Sachsen.

Berüchtigt.

In Hoheneck saßen die kriminellen Langstraferinnen, darunter Mörderinnen. Die Politischen wurden in alle Kommandos verteilt. Die Kriminellen warteten auf die »Amme«, Amnestie, und die Politischen auf »Transport«, also die Auslieferung in den Westen. Es war ein Schock für mich zu erleben, dass ein Staat seine »Landeskinder« verkauft. Regelmäßig fuhren Busse die von der Bundesrepublik frei gekauften Häftlinge in den Westen. Da habe ich den Glauben an den Sozialismus verloren.

Andererseits war der Knast für mich eine große Erfahrung und Bewusstseinserweiterung. Er hat mich viel über Frauen gelehrt. Und dass es auch hinter Mauern und Gittern große Gefühle gibt. Freundschaften waren wichtig, damit man nicht untergeht. Freundschaften waren wichtig, damit man nicht untergeht. Die Politischen – die es ja eigentlich in der DDR nicht gab, jedenfalls nicht in den Statistiken auftauchten – waren solidarisch zueinander, haben sich dem Leistungszwang im Knast entzogen, lebten für etwas anderes. Die Kriminellen, die oft über den Jugendwerkhof und Jugendknast kamen, ohne Aussicht, jemals die DDR zu verlassen, hatten eine andere Art zu überleben. Sie haben mir die Einsicht gegeben: Lebt da, wo ihr seid. Man muss miteinander auskommen, auch wenn man glaubt, ganz verschieden zu sein.

Kaum entlassen, haben Sie erneut wider den Stachel gelöckt. Warum?

Ich konnte nicht anders. Ich habe meine alten Freunde wieder aufgesucht. Viele haben den Druck nicht mehr ausgehalten. Für sie habe ich auf meiner Schreibmaschine Ausreiseanträge getippt. Das war für mich allerdings blöde, weil ich viele Freunde verlor und immer wieder neue suchen musste. Aus der von mir 1984 mitgegründeten Erfurter Künstlerinnengruppe »Exterra XX« wollte aber keine ausreisen.

Warum nicht?

Wir hatten uns in der DDR ein interessantes Leben gestaltet. Wir waren kreativ und unternehmungslustig. Wir haben Kunst gemacht, nicht im Stil des sozialistischen Realismus, sondern eigene Bilder, Kunstobjekte, Super-8-Filme, Performances, aus uns heraus, wollten Neues schaffen.

1980 hatte ich in Erfurt eine Privatgalerie von einem Berliner Künstler. Die nannte er »Galerie im Flur«, weil er dafür den langen Flur seiner privaten Wohnung zur Verfügung stellte. Er bot Thüringer Künstlern und Künstlerinnen eine Ausstellungsmöglichkeit. Seine Frau hatte Pädagogik studiert und es war üblich in der DDR, dass man erst einmal für drei Jahre in die Provinz geschickt wurde. Als diese drei Jahre um waren, zog sie mit Mann und Kind zurück nach Berlin. Er hat mir den Schlüssel seiner Wohnung gegeben: »Du führst die Galerie weiter.« Ich interessierte mich aber nicht nur für Künstler aus Thüringen, sondern auch aus Dresden, Rostock und Berlin, knüpfte Kontakte überall hin.

Das fand die Stasi nicht mehr nett. Die Galerie wurde geschlossen und ich erneut vorgeladen. Diesmal wollte man es nicht bei »Staatsverleumdung« belassen, es drohte mir der Vorwurf der »Staatsfeindlichen Hetze«. Das wäre dann schon auf drei bis fünf Jahre Haft hinausgelaufen. Mein damaliger Operativer Vorgang lief unter der Bezeichnung »Toxin«, also Gift.

Zu einer erneuten Verurteilung kam es nicht. Weil inzwischen schon so viele Menschen in Bewegung waren, opponierten, ihr eigenes Leben leben wollten?

Vielleicht. Aber man hat uns immer wieder attackiert, uns auseinandertreiben wollen, unsere Zirkel waren von Spitzeln durchsetzt, man hat unsere Pleinairs gesprengt, sogar unseren Aktzeichenzirkel liquidiert und unsere Werkstätten geschlossen.

In Ihren Arbeiten, so scheint es mir, kommen nur Frauen vor.

Nein, das stimmt so nicht. Ja, einerseits war es notwendig, sich als Frauen zusammenzuschließen und sich mit eigenen Inhalten in der Öffentlichkeit zu zeigen und aufzutreten. Wir haben bewiesen, dass jede Frau künstlerische Kreativität entfalten kann, man muss ihr nur einen Rahmen geben. Den haben wir uns selber gegeben. Und mit unseren Werken konnten sich Frauen identifizieren.

Zum Beispiel mit einer Mode-Objektshow 1988 zum Kirchentag in Erfurt im Augustinerkloster. Dort zeigten sich erstmals fünf Frauengruppen aus Erfurt der Öffentlichkeit. Die einen problematisierten die Militarisierung der Gesellschaft, die wieder um sich greift, andere Aggressivität in der Familie, Gewalt gegen Frauen, die anderen Umweltschäden und Klimawandel. Unsere Künstlerinnengruppe war furchtbar verschrien. Einige sagten: »Wir finden euch toll, es ist gut, dass es euch gibt, aber bei euch bekommt man keine Männer.« Was so nicht stimmte.

Sie haben sich dem Selbstbild und Selbstbewusstsein der Frau verschrieben.

Das ist meine feministische Seite. Auf der anderen Seite habe ich auch immer mit Männern zusammengearbeitet, beispielsweise mit Punks, die sich in der Öffentlichkeit als Kunstobjekte stilisierten und uns inspirierten. Wir trafen uns mit der 1980 gegründeten Punkband Schleimkeim. Und wir hatten selbst eine aparte Musikgruppe, nannten uns »EOG«, Erweiterter OrGasmus, in denen wir Frauentöne entwickelten. Unsere Gruppe wird heute zum Magnetbanduntergrund der DDR gerechnet.

Ich habe stets Räume gesucht, in denen ganz verschiedene Menschen zusammenkamen, um festzustellen, dass wir nicht verschieden sind. Ich habe mit einem Transvestiten Fotos gemacht. Mir ging es um Transsexualität: Was ist das Weibliche im Männlichen und was das Männliche im Weiblichen? Der Transvestit war eigentlich ein IM, den mir die Stasi »vermittelte«. Die Stasi hat immer wieder versucht, mich wegen Pornografie ins Gefängnis zu bringen. Um das zu vermeiden, habe ich bewusst keinen Geschlechtsakt oder erigierten Schwanz direkt gezeigt. Ich habe Anzeigen bekommen, die ich aber abweisen konnte. Ordnungsstrafverfahren blieben mir aber nicht erspart.

1988 entstand mein Film »Veitstanz«, wo Männer und Frauen sich an bestimmten Plätzen in Erfurt in Ekstase tanzten. Der Film wurde erst nach über 20 Jahren, auf der Berlinale 2020, vor einem größeren Publikum gezeigt.

Sie hatten damals auch zu Christa Wolf Kontakt aufgenommen …

Um sie als Fürsprecherin für meinen Text über Hoheneck zu gewinnen, den ich gleich nach meiner Entlassung verfasst habe: »Dabei sein und nicht schweigen«. Ich habe mich darin bewusst selbst zurückgenommen und ganz sachlich beschrieben, was ich im Frauengefängnis erlebte. Im Schreiben waren meine Vorbilder Simone de Beauvoir, »Das andere Geschlecht«. Das haben wir auch alle in der DDR gelesen, eine neue Philosophie, die Frauen sichtbar gemacht hat. Dann die Schriftstellerin Doris Lessing, die sexuelle Bedürfnisse der Frauen artikulierte, sowie Christa Wolf, die sich Frauenschicksalen zu verschiedenen Zeiten widmete. Vor allem hat mich ihre Erzählung »Kassandra« von 1983 beeindruckt, über die trojanische Königstochter und Seherin, die alles voraussehen konnte und doch Kriegsopfer wurde, gefangengenommen, vergewaltigt und ermordet.

Christa Wolf glitzerte für mich. Ich bin bei ihr in Berlin unangemeldet erschienen. Sie hat mich angehört, mein Manuskript gelesen, wie man im Gefängnis, wie man in einem Staat, eingemauert, überlebt. Aber sie riet mir von einer Veröffentlichung ab. Sie sagte: »Nimm es wieder mit, zeig es niemandem, gefährde dich nicht.« In ihrem Buch »Was bleibt« ist mein Besuch vermerkt. Mein Buch über Hoheneck »Die bröckelnde Festung« erschien nach der Wende.

Sie waren Mitinitiatorin der ersten Besetzung einer Dienststelle des MfS in der DDR, am 4.Dezember 1989 in Erfurt.

Wir Frauen haben nicht nur die Stasi-Zentrale in Erfurt besetzt, sondern auch entwaffnet. Auch wenn zu diesem Zeitpunkt klar war, dass Gorbatschow nicht die sowjetischen Streitkräfte in der DDR mobilisiert und gegen das Volk aufmarschieren lässt, standen Armee, Grenzregimenter, Polizei, die »Kampfgruppen der Arbeiterklasse« und die Staatssicherheit noch unter Waffen. Wir sind am 4. Dezember 1989 in Erfurt als erste Stadt in der DDR in die als uneinnehmbar geltende Stasi-Zentrale rein und nicht wieder hinaus, haben uns die Waffenkammern zeigen lassen, alles aufgelistet und den Stasi-Männern am gleichen Tag die Dienstausweise abgenommen und dann nach Hause geschickt.

Ebenso wichtig wie die Verhinderung der Aktenvernichtung war, dass es nicht doch noch zu blutigen Zusammenstößen kommt. Es war damals jedenfalls noch nicht gänzlich sicher, ob es friedlich bleibt. Im Westen hielt man sich deshalb auch zurück, weil man nicht ausschloss, dass es zu einem Bürgerkrieg kommen könnte. Aber die Zeit war reif. Tatsächlich erschienen bei uns nach drei Tagen drei Offiziere: »Wir kommen vom Grenzkommando und wollen versichern, dass von uns keine Gewalt ausgeht.«

Wir leben in einer Welt der Gewalt, neuer Kriege. Deutschland will »kriegstüchtig« sein. Dieser Tage fuhren Panzer durch Hamburg, kreisten Kampfhubschrauber über die Elbestadt. Das haben wir in der DDR so nicht erlebt, allerdings waren die Truppentransporte auf den Landstraßen auch ziemlich nervig.

Unsere Antimilitanz war ernst gemeint. Wir wollten keinen Wehrkundeunterricht und keine Wehrpflicht. »Schwerter zu Pflugscharen« war unsere Devise. Ich würde mich freuen, wenn junge Leute sich für unsere Erfahrungen, unsere Erlebnisse und unsere Geschichten interessieren. Ich glaube, sie könnten ihnen Kraft für ihre Herausforderungen heute geben.

Hat sich Ihr Streiten für grenzenlose Freiheit gelohnt?

Ja. Ich freue mich, dass sich Frauenforschung als eigene wissenschaftliche Disziplin etabliert und eine Emanzipation gesellschaftsreif wird, für die wir vor über vier Jahrzehnten gekämpft haben. Dass Gewalt gegen Frauen ein Thema ist, zum Beispiel über Femizide gesprochen wird, die es schon immer gab, weltweit.

Ich würde mich freuen, wenn junge Leute sich für unsere Erfahrungen, unsere Erlebnisse und unsere Geschichten interessieren. Ich glaube, sie können ihnen Kraft für Herausforderungen heute geben.

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