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Avraham Burg: »Diesmal sind wir es«

Deutschland benutzt Israels Opferstatus zur eigenen Rehabilitation. Nach Gaza muss damit Schluss sein, meint der israelische Ex-Politiker Avraham Burg

  • Avraham Burg
  • Lesedauer: 5 Min.
Gute Laune – israelische Soldaten bei der Eroberung des Gaza-Streifens
Gute Laune – israelische Soldaten bei der Eroberung des Gaza-Streifens

Seit der Staatsgründung verfügte Israel über eine Art politisches »Guthaben«, das dem Land unbegrenzt Kredit ermöglichte: der Holocaust. Unsere sich entfernende Vergangenheit definierte Israel als eine Ausnahme von der Regel, als ein Land, das Dinge tun konnte, die andere nicht machen durften. »Denn wir hatten den Holocaust.« Die Welt verstand, dass ein Volk, das einst am Rand der Auslöschung stand, nicht an denselben Standards gemessen werden sollte wie andere Nationen.

Wir haben das ausgenutzt. Manchmal zum Guten, andere Male zum Schlechten. Unter anderem wegen des Holocausts wurde der Staat Israel errichtet. Wegen des Holocausts verwandelten wir uns aus einer Gemeinschaft mittelloser Flüchtlinge in eine wirtschaftliche, akademische, kulturelle und militärische Macht. Wegen des Holocausts wurden wir zum letzten Kolonialstaat der demokratischen Hemisphäre und verübten unbeschreibliche Verbrechen in Gaza. Wegen des Holocausts hat die Welt uns noch nicht gestoppt.

Avraham Burg

»Avrum« Burg, 1955 in Jerusalem geboren, wurde als hochrangiger Politiker der israelischen Arbeiterpartei bekannt. In den 1980er Jahren in der Friedensbewegung Peace Now aktiv, wurde er Ende des Jahrzehnts als sozialdemokratischer Abgeordneter in der Knesset gewählt. 1995 wurde er zum Vorsitzenden der Nichtregierungsorganisationen Jewish Agency und World Zionist Organization ernannt, kehrte einige Jahre später allerdings ins Parlament zurück.
Nach der Jahrtausendwende wurde Burg ein immer entschiedenerer Kritiker der Besatzungspolitik und zog sich schließlich aus der israelischen Politik zurück. Heute bezeichnet sich Burg, der 2015 dem linken Parteienbündnis Chadasch beitrat, als »Post-Zionist«. Er propagiert die Abkehr vom politischen Zionismus und spricht sich für eine Transformation Israels in einen nicht-religiös und nicht-ethnisch fundierten Staat aus. Burg unterrichtet u.a. an der University of Notre Dame in Jerusalem.

Diese Kreditlinie war nicht nur das Ergebnis internationaler Empathie. Es war Teil eines komplexen historischen Geschäfts. Deutschland, das die schwerste Verantwortung für den Holocaust trug, akzeptierte eine Doppelmission: sich rehabilitieren und die Juden beschützen. Israel wurde zum Testgelände für beides. So lange die Juden als ewige Opfer betrachtet wurden, würde sich Deutschland als ewig verantwortlich definieren können. Das exakte Gegenteil der Verhältnisse, die während des Zweiten Weltkriegs geherrscht hatten.

Der große Deal mit Deutschland

Das Geschäft kam beiden Seiten gelegen. Israel bekam Reparationen, Waffen, Technologie und vor allem unbegrenzte Legitimation. Deutschland hingegen erhielt eine Art »Entlassungsbescheinigung«: den Beweis dafür, dass es nicht länger das Dritte Reich war, seine Lektion gelernt hatte und seine Schulden abzahlte.

Israel begründete seine internationale Identität auf der Opferrolle. Deutschland erschuf seine neue Identität auf einer mit Schuldgefühlen verknüpften Verantwortung. Eine krumme Symbiose entstand: Die Juden mussten Opfer bleiben, damit sich die Deutschen weiter rehabilitieren konnten. Und solange die Deutschen Verantwortung tragen, können die israelischen Juden das Opfer bleiben, dem alles erlaubt ist und vergeben wird.

Die Welt sieht nun, was Israelis sich zu sehen weigern.

Der Krieg in Gaza hat diese Ordnung zertrümmert. Israel lässt sich nicht länger glaubwürdig als verfolgter Staat beschreiben. Außerhalb der wahnhaften deutschen Phantasie und der in Israel kultivierten Blindheit ist Israel schon lange nicht mehr dieser verfolgte Staat. Es ist eine wohlhabende, militärisch beeindruckende Nation, die über hochentwickelte Verteidigungs- und Angriffsmöglichkeiten, eine florierende High-Tech-Economy und breite diplomatische Beziehungen verfügt. Nur Deutschlands Schuld-Gefangenschaft erlaubte es Israel, sich zu verhalten, als sei es nach wie vor existenzbedroht. Aber nicht mehr lange.

Die Welt sieht nun, was Israelis sich zu sehen weigern: bombardierte Flüchtlings-Camps, unter Schutt begrabene Kinder, eine sich in Gaza ausbreitende Hungersnot, ausradierte Stadtviertel, zerstörte Gesundheits- und Bildungssysteme und systematisch ermordete Journalisten. In Anbetracht dieser Wirklichkeit kann niemand mehr den Mythos des ewigen Opfers aufrechterhalten. Auschwitz kann Rafah nicht rechtfertigen. Das Warschauer Ghetto kann das Gesicht eines achtjährigen, von israelischen Bomben ermordeten Jungen nicht verbergen. In dem Augenblick, als Israel zum Verursacher dieses massenhaften Leids wurde, erschöpfte sich sein moralischer Kredit. Zurecht.

Paradoxerweise ist Israels brutaler Krieg in Gaza auch zu Deutschlands Befreiungskrieg geworden. Das hässliche, gewaltsame Israel entließ Deutschland aus seinem alten Vertrag. Deutschland sollte Juden wie Sicherheitsminister Ben-Gvir, Finanzminister Smotrich und Ministerpräsident Netanjahu nicht als Opfer akzeptieren. Es muss sie als normale menschliche Wesen betrachten. Die zu mächtig, schuldig und verantwortlich sind. Keines der deutschen Verbrechen ist deshalb ausgelöscht oder vergessen. Die Gräueltaten des Holocausts bleiben. Aber keine dieser Gräueltaten sollte Deutschland erlauben, neue Verbrechen zu unterstützen: jene Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die heute von den Kindern seiner ehemaligen Opfer verübt werden.

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Das wirft eine neue Frage auf: Wenn der neue israelische Jude eher ein Täter als ein Opfer ist, wer ist dann der neue Deutsche? Zum ersten Mal seit 1945 kann Deutschland Juden retten. Aber nicht vor deutschen Nazis, sondern vor jüdischen Rassisten und dem israelischen Staat selbst.

Israel kann sich nicht länger verstecken. Es besitzt keinen historischen Versicherungsschein mehr. Die moralische Immunität ist aufgehoben. Israel kann nicht länger in Berlin, Brüssel oder Washington vorstellig werden, um mit Verweis auf die Vergangenheit darum zu bitten, dass man ein Auge zudrückt. Von nun an wird Israel nicht länger danach beurteilt werden, was ihm angetan wurde, sondern danach, was es anderen antut.

Die wahre Prüfung

Das ist die wahre Prüfung – eine, der sich Israel stets verweigert hat. Es hat sich selbst dann noch auf seine Opferrolle berufen, als es schon eine Regionalmacht geworden war. Es begründete seine Identität auf dem Slogan »Nie wieder«, der allerdings nur für Juden gelten sollte. Das Ergebnis: Wenn die Welt sieht, wie Palästinenser ermordet, vertrieben und ausgehungert werden, akzeptiert es die Ausrede nicht länger, dass die historische Vernichtungserfahrung Israel von einer Rechenschaftspflicht befreit. Für die westliche Welt gilt »Nie Wieder« für alle. Auch der Palästinenser in Gaza ist ein menschliches Wesen, für den der Schutz des »Nie Wieder« gilt.

Der Holocaust wird immer ein schwarzes Loch in der Menschheitsgeschichte bleiben. Aber die moralische Kreditkarte, die er Israel verlieh, ist abgelaufen. Von nun an wird Israel wie jeder andere Staat bewertet werden – nach seinen Taten in der Gegenwart.

Das ist eine schmerzhafte Erkenntnis für Israel. Vielleicht die schmerzhafteste seit der Gründung des Staates. Zum ersten Mal wird Israel für seine eigenen Taten und Verfehlungen zur Rechenschaft gezogen werden. Und doch eröffnet dieser Augenblick auch Chancen. Die Verbrechen der Hamas von Oktober 2023 rechtfertigen die von Israel seitdem begangenen Taten nicht – und wiegen sie erst recht nicht auf. Nichtsdestotrotz muss es immer wieder gesagt werden: Juden haben Deutschland niemals angegriffen, und für die »Endlösung« gab es keine Rechtfertigung – wie auch immer sie lauten sollte. Trotzdem muss Israel nach 2023 zum Deutschland Gazas und Palästinas werden.

Nachdem Israel Gaza zerstört hat, muss es das Land wiederaufbauen. Nachdem Israel den Palästinensern Frieden und Hoffnung verweigert hat, muss es einer ganzen Generation von Palästinensern ein Leben in Frieden und Hoffnung gewährleisten. Denn es gibt noch eine weitere Lektion »unseres Holocausts«: nicht nur die Opfer brauchen Heilung und Wiedergutmachung. Auch der Täter braucht sie. Diesmal sind wir es, die Israelis.

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