- Kommentare
- Geflüchtete auf dem Mittelmeer
EU-Migrationsabwehr: Leichen pflastern ihren Weg
Christian Klemm über das nicht endende Sterben im Mittelmeer
Die Öffentlichkeit schaut mit einer Mischung aus Entsetzen und Mitleid auf die gegenwärtigen Krisen auf der Welt. Drei stechen besonders hervor: der blutige Machtkampf im Sudan, der russische Angriffskrieg in der Ukraine und der fragile Waffenstillstand im Nahen Osten. Kaum noch jemand aber interessiert sich für die Tragödie, die sich auf dem Mittelmeer abspielt. In unschöner Regelmäßigkeit sinken dort kaum seetaugliche Boote mit Flüchtlingen an Bord: Seit 2015 sollen so fast 30 000 Menschen gestorben sein. Ein nicht endender Albtraum.
Erst in dieser Woche ist wieder ein Boot vor der libyschen Küste gekentert. Nach UN-Angaben sind dabei mindestens 18 Migranten ums Leben gekommen. 64 Insassen des Holzbootes seien gerettet worden, so die Internationale Organisation für Migration. Die Überlebenden stammten demnach aus Bangladesch, Pakistan, Somalia und – wen wundert’s: dem Sudan. Dort spielt sich laut Vereinten Nationen die »am schnellsten wachsende Flüchtlingskrise der Welt« ab. Zwölf Millionen Menschen sind auf der Flucht; 150 000 sind in dem Konflikt bereits getötet worden.
Ein besonders unrühmliche Rolle auf dem Binnenmeer spielt die »Küstenwache« Libyens. Wenn man ein Wort jemals in Anführungsstriche setzen musste, dann dieses. Denn diese bewaffnete Truppe wurde von der EU als eine Art Vorposten ihres eigenen Grenzregimes installiert. Man hat Ausrüstung und Schiffe geliefert und das Personal geschult. Rund 700 Millionen Euro flossen seit 2015 von Brüssel nach Tripolis, ein Teil davon ging direkt in die Flüchtlingsabwehr.
Und die sogenannte Küstenwache macht ihren Job so, wie es der Auftraggeber vorgibt: Allein im laufenden Jahr haben die Libyer mehr als 16 200 Menschen in den nordafrikanischen Wüstenstaat zurückgebracht. Dort geht das Drama in der Regel weiter: Internationale Organisationen berichten von Geflüchteten, die in Lager gesperrt werden, wo ihnen Folter und Vergewaltigung drohen. Ein aktueller »Monitor«-Beitrag zeigt verstörende Bilder von Menschen, die diese Tortur überstanden haben. Die Aufnahmen sind nur schwer zu ertragen.
Kommissionschefin Ursula von der Leyen und ihre Claqueure im EU-Apparat betonen ständig, wie viel Wert Europa auf Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit legt. Die Adressaten sind Peking, Moskau, Ankara und neuerdings auch Washington. Man stellt sich als Wertegemeinschaft dar, die etwas Besseres ist, Demokratie und Menschlichkeit vorlebt. Doch in Wirklichkeit pflastern Leichen ihren Weg. Damit entlarvt das Mittelmeer diese Heuchelei als das, was sie wirklich ist: ein moralischer Bankrott der Europäischen Union.
Wir haben einen Preis. Aber keinen Gewinn.
Die »nd.Genossenschaft« gehört den Menschen, die sie ermöglichen: unseren Leser*innen und Autor*innen. Sie sind es, die mit ihrem Beitrag linken Journalismus für alle sichern: ohne Gewinnmaximierung, Medienkonzern oder Tech-Milliardär.
Dank Ihrer Unterstützung können wir:
→ unabhängig und kritisch berichten
→ Themen sichtbar machen, die sonst untergehen
→ Stimmen Gehör verschaffen, die oft überhört werden
→ Desinformation Fakten entgegensetzen
→ linke Debatten anstoßen und vertiefen
Jetzt »Freiwillig zahlen« und die Finanzierung unserer solidarischen Zeitung unterstützen. Damit nd.bleibt.