Wenn erst mal die dritte Stufe zündet ....

Michael Brie wünscht sich Die Linke als sozialistische Klassenpartei

  • Pia Sophie Roy
  • Lesedauer: 7 Min.
Man steht wieder hinter dem Banner des Klassenkampfes – die Berliner Linke im Wahlkampfmodus.
Man steht wieder hinter dem Banner des Klassenkampfes – die Berliner Linke im Wahlkampfmodus.

Man reibt sich etwas verwundert die Äuglein: Arbeiterklasse? Sozialistische Klassenpolitik? Kommunismus? Begriffe, von denen sich die deutschen Linken in der Zeitenwende 1989/90 verabschiedet haben. Und die kehren jetzt wieder? Sie werden wiederentdeckt. Jedenfalls in einer just dieser Tage erscheinenden Publikation von Michael Brie, einem der Vordenker der sich in dramatischen Tagen gründenden Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS) und hernach langjährigem Direktor des Instituts für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung sowie bis 2023 Vorsitzenden von deren wissenschaftlichem Beirat.

Was ist der Auslöser für die Rückbesinnung auf klassische Begriffe der Arbeiterbewegung? Man kann es ahnen. Und man kann nachempfinden, dass Brie das Auseinanderbrechen der Linkspartei sowie deren drohendes Verschwinden aus der Parteienlandschaft und von der parlamentarischen Bühne vor gut einem Jahr mächtig zugesetzt hat. Wie so vielen anderen freilich auch. Brie war allerdings konkret an der Ausarbeitung etlicher Programme und Strategiepapiere der PDS/Linkspartei beteiligt, nicht nur mit politischem Scharfsinn und philosophischem Weitblick, sondern stets auch mit Herzblut. Da darf nicht alles umsonst gewesen sein.

Die Linkspartei hat sich aufgerappelt, einen fulminanten Stimmen- und Mitgliederzuwachs im Kontext der Bundestagswahlen Anfang dieses Jahres verbuchen können – was den promovierten Philosophen und erfahrenen Politikwissenschaftler nicht beruhigt. Seine nunmehrige Intervention ist motiviert von der Sorge eines neuerlichen Rückschlages.

Sein Plädoyer für eine neue strategische Diskussion eröffnet Brie mit Kindheitserinnerungen. Fasziniert habe er in den Fernsehnachrichten die Fotos von startenden Weltraumraketen verfolgt, »die sich mit dröhnender Macht in den dunklen Himmel erhoben, dann, kaum noch erkennbar mit bloßem Auge, die erste Raketenstufe abwarfen, eine zweite Stufe, später eine dritte Stufe zündeten und weiter emporstiegen. Ohne diesen Start der zweiten und dritten Stufe hätten sie zwar noch Minuten an Höhe gewonnen, um dann aber unweigerlich zu sinken und schließlich mit rasendem Tempo hinabzustürzen«. Für ihn eine Metapher der dauernden Mahnung für seine Partei, die an einer solchen Katastrophe einige Male knapp vorbeigeschrammt ist. »Nach der Gründung 2005/07 eilte sie von Erfolg zu Erfolg, doch die inneren Konflikte nahmen zu. Sie konnte in Göttingen 2012 die Spaltung noch einmal verhindern, hat sich danach nur noch mühsam halten können, immer tiefer zerrissen durch ungelöste Konflikte, bis es zur Abspaltung des BSW kam, und blickte dann bei den Europawahlen sowie den Landtagswahlen in Brandenburg und Sachsen 2024 in den Abgrund der politischen Bedeutungslosigkeit. Der Neustart im Herbst und Winter 2024/25 hat einen Höhenflug ausgelöst. Aber er ist fragil.«

Brie reflektiert kurz den Gründungsprozess der Linkspartei. Durch die Fusion der ostdeutschen, sozialistisch orientierten PDS und des westdeutschen Wahlbündnisses WASG sei eine »zeitgenössische Arbeiterpartei« entstanden, wie Brie den langjährigen Archivar der PDS/Linkspartei, Jochen Weichold, zitiert. Aus dem Engagement diverser Kräfte aus globalisierungskritischen, ökologischen und radikalfeministischen Bewegungen sei vor bald zwei Dezennien eine Partei hervorgegangen, welche die Spaltung in sozialdemokratische und kommunistische Strömungen, in »alte« und die »neue« Linke, in Ost und West zu überwinden suchte. »Die Arbeiterfrage und die Frage der radikalen Emanzipation sollten neu verbunden werden. Darin lag eine ungeheure Chance.« Und doch waren zugleich Probleme programmiert.

Die Linkspartei diskutierte und zerstritt sich immer wieder von neuem, bis hin zu offen ausgetragener persönlicher Feindschaft. Jede Seite der Kombattanten fühlte sich als Gralshüter der einzigen Wahrheit. Derart gewinnt man keine Sympathisanten, keine Wähler, keine Mitglieder und keine Bündnisgefährten. Der Spaltpilz gedieh mit jeder weiteren, selbstverschuldeten Niederlage in der öffentlichen Wahrnehmung und im öffentlichen Raum.

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Nun weiß der Marxist Brie natürlich: »Sozialistische Bewegungen bringen ständig ›Kinderkrankheiten‹ hervor.« Aber man kann vorzubeugen versuchen. Erfolgreiche Therapie setzt eine klarsichtige Diagnose voraus. »Meines Erachtens zeigt gerade die Erfahrung in den letzten 15 Jahren, dass es nicht die Differenzen selbst, sondern die Unfähigkeit war, den notwendigen strategischen Lernprozess zu führen, der das immer stärkere Auseinanderdriften in der Partei befördert hat«, schreibt Brie. Er konstatiert sodann: »Jede Bestimmung einer politischen Strategie beginnt mit der Definition der Handlungssituation, das heißt der Epoche, der bestimmenden Akteure und Hauptkonflikte. Da jede solche Situation aber durch eine hohe Komplexität von Widersprüchen gekennzeichnet ist, muss entschieden werden, welcher dieser Widersprüche der für das eigene Handeln entscheidende ist.«

Da taucht nun ein weiterer, lange nicht mehr in linken Disputen zu hörender und zu lesender Begriff auf: der Hauptwiderspruch, der laut klassischem Marxismus in der kapitalistischen Gesellschaft im Grundwiderspruch zwischen Lohnarbeit und Kapital besteht. Darauf lässt sich Brie hier jedoch nicht ein. Er bezieht sich auf Antonio Gramsci: »Erst ausgehend von der Erfassung der Handlungssituation und der Definition des Hauptwiderspruchs können Positionen entwickelt werden, die ›intellektuelle wie moralische Führung‹ ermöglichen und auf Hegemonie zielen.«

Der Wahlsieg des Rechtskonservativen Friedrich Merz und der Aufstieg der AfD zur zweitstärksten Partei in der Bundesrepublik markieren für Brie eine »innere politische Zeitenwende«. Global konstatiert der Autor: »Die gegenwärtig herrschenden Projekte eines sich autoritär wendenden liberalen Finanzmarktkapitalismus und eines autoritären Festungskapitalismus mit liberalen Elementen haben die Frage des Faschismus wieder auf die historische Tagesordnung gesetzt.« Der Sohn von während der Nazizeit aufgrund ihrer politischen Gesinnung und jüdischen Herkunft ins Exil Getriebenen begrüßt selbstredend und empfindet es wohl auch als selbstverständlich, dass Antifaschismus Leitorientierung und Markenzeichen seiner Partei ist. Mehr noch: »Der Kampf gegen faschistische und neofaschistische Tendenzen, der schon für die PDS ein Kernthema war und im Programm von Die Linke verankert ist, wurde zu einer übergreifenden Klammer. Die Begriffsbildung des Antifaschistischen eignet sich hervorragend, um einen klaren antagonistischen Gegensatz zur Neuen Rechten und zu den mit ihr verbundenen faschistoiden Gruppen zu definieren. Antifaschismus hat als politischer Kampfbegriff eine hohe Mobilisierungskraft in relevanten linken Milieus und ist unverzichtbar, nicht zuletzt angesichts konkreter Bedrohung durch rechte Gewalt.«

Zugleich fordert Brie, begrifflich klar zu unterscheiden zwischen Tendenzen oder Prozessen der Faschisierung sowie Faschismus an der Macht. Der Autor erörtert und vergleicht den liberalen und den liberal-autoritären Staat, den Staat des autoritären Etatismus und den faschistischen Staat. Seines Erachtens droht Deutschland noch nicht unmittelbar der Rückfall in eine faschistische Diktatur. Man hätte sich hier von Brie auch ein Zerpflücken des unsinnigen, in sich total widersprüchlichen, aber von Linken diverser Couleur heute gern gebrachten (und auch durch die Spalten dieser Zeitung wabernden) Begriff des »demokratischen Faschismus« gewünscht. Was, bitte, soll das denn sein?!

Doch nun zu den strategischen Kernaufgaben, vor denen Brie seine Partei sieht: ein Mitte-Links-Bündnis gegen rechts und die Verhinderung einer rechtsautoritären Regierung. Der Aufbau eines starken linken Pols sei die erste Stufe. Erst wenn diese »zündet«, könne ein »starker Druck auf andere politische Kräfte wie SPD und Grüne ausgeübt werden, sich selbst deutlich nach links zu bewegen, ohne dabei den Anschluss in der Mitte zu verlieren. Und nur wenn dieser zweite Schritt Erfolg hat, kann in einem dritten Schritt ein Richtungswechsel der Politik eingeleitet werden, der autoritäre Kräfte zurückdrängt und die Ursachen der Faschisierung wirksam bekämpft.« Und darüber hinaus eine sozial-ökologische Wende einläutet. Das wäre der Linken Höheflug.

Abschließend fordert Brie zu einer Erneuerung des Verständnisses von Sozialismus als Einheit von liberalen und kommunistischen Elementen auf. Denn »ohne eine gemeinsame ideologische Identität der Mitgliedschaft und Führung wird Die Linke bei der nächsten Krise wieder zerbrechen«. Der Philosoph bedauert, dass die Frage einer eigenen geistig-politischen und vor allem auch kulturellen Identität als sozialistische Klassenpartei in der Strategiediskussion der Partei bisher nicht gestellt wird: »Das könnte sich als tödlicher Fehler herausstellen und einen neuen Absturz der Partei Die Linke herbeiführen.«

Michael Brie: Die Linke als sozialistische Klassenpartei. Plädoyer in der strategischen Diskussion. Mit einem Vorwort von Heinz Bierbaum, Vorsitzender der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Supplement zur Zeitschrift »Sozialismus«. VSA-Verlag, 68 S., br., 7 €.

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