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Jungfernheide: Soldaten spielen Krieg gegen Saboteure

Übung des Wachbatallions der Bundeswehr im Berliner U-Bahnhof Jungfernheide und im alten Chemiewerk Rüdersdorf

  • Andreas Fritsche
  • Lesedauer: 4 Min.
Das Wachbataillon bildet nicht nur Ehrenformationen zur Begrüßung von Staatsgästen. Es hat auch einen Kampfauftrag.
Das Wachbataillon bildet nicht nur Ehrenformationen zur Begrüßung von Staatsgästen. Es hat auch einen Kampfauftrag.

Nachts gegen 1.30 Uhr sind sie da. Bundeswehrsoldaten im Kampfanzug klettern aus ihren Fahrzeugen. Mit Helm auf dem Kopf und Gewehr vor der Brust dringen sie grüppchenweise in den Berliner Bahnhof Jungfernheide ein. Die zwei Bahnsteige der S- und Regionalbahn oben lassen sie rechts liegen, streben links hinunter zur U-Bahn. »Los«, lautet ein knapper Befehl. Ein Offizier kommandiert: »Der letzte Mann sagt Bescheid, dass wir durch sind.« Auf einem Gebäude gegenüber sollen zwei Scharfschützen liegen, die das Gelände ins Visier nehmen. Die Truppe kämpft unterirdisch die Gleise frei und setzt Saboteure fest. Verletzte werden in Sicherheit gebracht und versorgt.

Das hört sich sehr ernst an. Es ist aber kein Ernstfall, sondern ein Szenario der Übung »Bollwerk Bärlin III«. Die zweite und dritte Kompanie des Wachbataillons proben vom 17. bis zum 21. November am Bahnhof Jungfernheide und auf einem Trainingsgelände der Polizei in Ruhleben sowie in einem alten Chemiewerk im brandenburgischen Rüdersdorf den Häuserkampf in der Großstadt. Neben der Bildung von Ehrenformationen beim Empfang von Staatsgästen gehört es zum Auftrag des Bataillons, die Bundesregierung zu beschützen. Daran würde sich nichts ändern, wenn ein Krieg ausbricht. Dann würden diese Kompanien trotzdem nicht an die »Ostfront« verlegt, sondern ihr Einsatzgebiet bliebe Berlin, erklärt in der Nacht zum Dienstag ein junger Soldat. Er ist mit zwei Kameraden am Bahnhof Jungfernheide an einem Infostand postiert, um interessierten Bürgern Auskunft zu erteilen.

Trainieren könnte das Bataillon den Häuserkampf selbstverständlich auch in Kulissenstädten, die auf Truppenüberungsplätzen extra dafür bereitstehen. Doch hier sei die Übung realistischer, heißt es. Genau hier würde im Ernstfall vielleicht scharf geschossen. In den vergangenen Jahrzehnten spielten solche Überlegungen keine Rolle. Aber: »Seit dem Beginn des völkerrechtswidrigen russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine hat sich die sicherheitspolitische Lage in Europa grundlegend geändert.« Eine wirksame Landesverteidigung sei dadurch wieder verstärkt in den Fokus gerückt. So steht es auf Faltblättern, die zum Mitnehmen bereitliegen. Es sind um diese nachtschlafende Zeit allerdings nur sehr wenige Passanten unterwegs. Zwei, drei Fahrgäste haben gerade die letzten bis zum frühen Morgen noch verkehrenden S-Bahnen genommen, in einem Kiosk räumt ein Beschäftigter auf, bevor er abschließt und Feierabend macht. Ein Mann sucht die Haltestelle der Nachtbusse.

Nur eine Frau ist extra hergekommen, weil sie von der Übung in der Zeitung gelesen hat. Die 63-Jährige zeigt nun ein Schild mit einem Foto, das sie von einer 1998 an der Stadtmauer von Bernau angebrachten Tafel gemacht hat. Gewidmet ist diese Tafel »allen Deserteuren und Verweigerern, deren Heimat die Mutter Erde ist, die im Feind den Menschenbruder erkennen, die statt auf Generäle auf den Befehl ihres Gewissens hören, die nicht an Ideologien, sondern am Leben hängen«.

Ein Kollege vom anwesenden Sicherheitsdienst der Berliner Verkehrsbetriebe liest sich das durch und bemerkt bedauernd: »Wenn’s keine Armeen gäbe, gäbe es auch keine Kriege.« Nur leider würden die Staaten, die zuerst ihre Truppen abschaffen, dann vielleicht von den anderen überrannt.

»Ich möchte auf gar keinen Fall verteidigt werden«, beteuert die 63-Jährige. »Entweder ich haue vorher ab oder ich gehe mit einer weißen Fahne auf die Straße.« Notfalls würde sie lieber sterben. Letztendlich gehe es doch überhaupt nicht um die Verteidigung der Bevölkerung, sondern um den Profit der Rüstungsindustrie.

Die 63-Jährige ist wütend auf den russischen Präsidenten Wladimir Putin und jeden anderen Staatsmann, der junge Männer zum Töten ausbilden lässt und in Kriege schickt. Ihre beiden Söhne gebe sie dafür nicht, sagt sie. Ihre inzwischen verstorbene Mutter habe, nachdem sie die Schrecken des Zweiten Weltkriegs erleben musste, 1955 mit der Gründung der Bundeswehr gehadert und es sehr unterstützt, dass ihr Sohn den Wehrdienst verweigerte.

Dass in Rüdersdorf der Häuserkampf geübt wird, alarmiert die Kreistagsabgeordnete Kerstin Kaiser (Linke) und auch den Landtagsabgeordneten Falk Peschel (BSW). Peschel meint: »Anstatt immer häufiger Militärübungen mit martialischen Titeln zu veranstalten und die Militarisierung unserer Gesellschaft voranzutreiben, täten die politisch Verantwortlichen gut daran, durch kluge Diplomatie und Interessenausgleich dafür zu sorgen, dass ein Kampf um Berlin nie wieder Realität wird.« Zu bedenken sei auch, »dass ein nächster Krieg vermutlich nicht im Häuserkampf um Berlin enden würde, sondern in einem atomaren Schlagabtausch«.

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