Libanon: Ein Jahr Waffenruhe ohne Frieden

Spannungen, Angriffe und Misstrauen wachsen mit jedem Tag

  • Amira Rajab und Weedah Hamzah, Beirut
  • Lesedauer: 5 Min.
Soldaten der libanesischen Armee bewachen das Gebiet eines israelischen Luftangriffs auf den südlichen Vorort Dahijeh der Hauptstadt Beirut. Nach Angaben des israelischen Militärs galt der Angriff dem Stabschef der Hisbollah. Den libanesischen Behörden zufolge wurden dabei mindestens fünf Menschen getötet und 28 verletzt.
Soldaten der libanesischen Armee bewachen das Gebiet eines israelischen Luftangriffs auf den südlichen Vorort Dahijeh der Hauptstadt Beirut. Nach Angaben des israelischen Militärs galt der Angriff dem Stabschef der Hisbollah. Den libanesischen Behörden zufolge wurden dabei mindestens fünf Menschen getötet und 28 verletzt.

Wer nach Aita Al-Schaab im Südlibanon kommt, sieht vor allem eines: Zerstörung, wohin das Auge blickt. Kaum ein Haus steht noch, das nur drei Kilometer von der israelischen Grenze entfernte Dorf liegt in Trümmern. Balkone hängen an bröckelnden Häuserfassaden, Stahlträger ragen aus Trümmern, halb zerfetze Häuser geben Einblick in ehemalige Wohnräume.

90 Prozent des Dorfes wurden im Krieg zwischen der vom Iran unterstützten Hisbollah und Israel im vergangenen Jahr zerstört, sagt Bürgermeister Ahmad Srour. Von den rund 15 000 Einwohnern sind bis heute nur wenige in das Dorf zurückgekehrt, das als wichtige Front der Hisbollah gegen Israel galt. An Wiederaufbau mag derzeit kaum jemand denken. Wieder einmal spitzt sich die Lage mit jedem Tag weiter zu.

Mehr als 100 Zivilisten getötet

Am 27. November 2024 trat eine Waffenruhe in Kraft. Von Frieden kann jedoch keine Rede sein. Israel wirft der Hisbollah vor, ihr Waffenarsenal erneut auszubauen, um damit Angriffe zu starten – täglich greift die Luftwaffe daher weiter an. Erst am Sonntag auch wieder in den Vororten der libanesischen Hauptstadt Beirut. Nach eigenen Aussagen soll es Produktionsstätten, Waffenlager, Hisbollah-Mitglieder und andere Ziele der Miliz treffen. Unabhängig überprüfen lässt sich das jedoch nicht.

Die Hisbollah hingegen sieht in den stetigen Angriffen Israels das Hindernis für den Frieden. Sie fordert, dass das israelische Militär zudem noch verbleibende Truppen aus dem Südlibanon abzieht. Das Gesundheitsministerium in Beirut meldete zuletzt rund 300 Tote seit Beginn der Waffenruhe.

Drohnen und zerstörte Olivenhaine

Nach UN-Angaben sind darunter auch mehr als 100 Zivilisten. Opferzahlen aus den eigenen Reihen veröffentlicht die Hisbollah nicht. Angriffe gegen das Nachbarland hat sie selbst jedoch nicht mehr gestartet. Sie gilt heute als deutlich geschwächt.

Laut der UN-Beobachtermission Unifil im libanesischen Grenzgebiet zu Israel wurden seit Beginn der Waffenruhe mehr als 7500 Verstöße in der Luft und 2500 am Boden gezählt. Über 360 zurückgelassene Waffendepots seien registriert und an die libanesische Armee übergeben worden.

»Heute kamen die Drohnen nicht, weil sie sehen können, dass wir Besucher haben – eine ausländische Nachrichtenagentur«, sagt Hala Kassem, die die einzig noch verbliebene Bäckerei in Aita Al-Schaab betreibt. »Heute wollen sie nicht zeigen, wie sie uns sonst terrorisieren.« Die israelischen Drohnen sind berühmt für ihr stundenlanges, nervtötendes Surren im libanesischen Luftraum – egal ob im Grenzgebiet, über größeren Städten oder über der Hauptstadt Beirut. »Manchmal laden wir sie auf einen Tee ein«, witzelt Kassem.

Israel beschuldigt die Hisbollah, zivile Gebäude für sich und ihre Waffen zu nutzen. Bis heute kämen israelische Soldaten, »wie sie wollen« in das Dorf, sagt Hadi Mansur, ein weiterer Bewohner, der sich in der Bäckerei sein Frühstück holt. Erst vor ein paar Wochen hätten sie eine Förderschule am Stadtrand gesprengt. »Sie kommen einfach, schneiden Olivenhaine nieder und niemand sagt etwas«, fügt er an. Über ein solches Vorgehen Israels berichtete auch die staatliche Nachrichtenagentur NNA. Israel wies Berichte dazu zurück.

Schleppende Entwaffnung

Teil der Vereinbarung zur Waffenruhe war auch die Entwaffnung der Hisbollah – ein politisch heikler und seit Jahrzehnten erfolglos angestrebter Prozess. Offiziell befinden sich Israel und der Libanon im Kriegszustand. Unter dem Druck der vergangenen Monate zeigte sich Präsident Joseph Aoun jedoch offen für neue Gespräche.

Die Schwächung der Hisbollah hat den Weg zu einer Entwaffnung überhaupt erst ermöglicht. Zuvor hatte sie sich im Libanon einen Staat im Staate aufgebaut. Die Organisation habe sich als einzig wahrer Widerstand gegen den Erzfeind Israel positioniert: Ohne sie – so denken viele ihrer Anhänger – sei der Libanon dem Feind an der Grenze und seinen Expansionsbegehren schutzlos ausgesetzt.

Der Prozess zur Entwaffnung läuft schleppend, für Israels Regierung nicht schnell genug: Mit jedem Tag erhöht sie den Druck. Bis Ende des Jahres soll die libanesische Armee – deutlich schwächer und weniger finanzkräftig – der Hisbollah die Waffen abnehmen. Die hat dem Zeitplan selbst nie zugestimmt. Die Hisbollah sollte sich bis etwa 30 Kilometer nördlich der israelisch-libanesischen Grenze zurückziehen.

»Armee kann uns nicht schützen«

In Aita Al-Schaab sind gerade einmal fünf Soldaten stationiert. »Glauben Sie, das gibt den Menschen ein Gefühl der Sicherheit?«, fragt Anwohner Mansur. »Es ist keine Frage des Vertrauens. Die libanesische Regierung hat bisher bewiesen, dass sie uns nicht schützen kann.« Bürgermeister Srour betont: »Wir stehen hinter der libanesischen Armee und der Regierung, aber die Fähigkeiten der Armee sind gering.«

Im fünf Kilometer entfernten christlichen Nachbardorf Remeisch ist von Zerstörung nichts zu sehen. In umliegenden schiitischen Dörfern hängt an fast jedem Laternenpfahl ein Bild eines im Krieg getöteten »Märtyrers«, aber nicht in Remeisch.

Auch das Misstrauen gegenüber Israel ist geringer. »Hier gab es keinen Beschuss«, sagt Priester Nadschib Al-Amil. Remeisch ist eine der größten christlichen Gemeinden im Südlibanon und unterstützt den »Widerstand« nicht. Der Priester setzt auf Diplomatie: »Wenn du deinem Nachbarn nicht entgegentreten kannst, schließe Frieden.« dpa/nd

- Anzeige -

Wir stehen zum Verkauf. Aber nur an unsere Leser*innen.

Die »nd.Genossenschaft« gehört denen, die sie lesen und schreiben. Sie sichern mit ihrem Beitrag, dass unser Journalismus für alle zugänglich bleibt – ganz ohne Medienkonzern, Milliardär oder Paywall.

Dank Ihrer Unterstützung können wir:

→ unabhängig und kritisch berichten
→ übersehene Themen in den Fokus rücken
→ marginalisierten Stimmen eine Plattform geben
→ Falschinformationen etwas entgegensetzen
→ linke Debatten anstoßen und weiterentwickeln

Mit »Freiwillig zahlen« oder einem Genossenschaftsanteil machen Sie den Unterschied. Sie helfen, diese Zeitung am Leben zu halten. Damit nd.bleibt.