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- Rechtsextremismus
Dritter Weg in Berlin: Überlebende auf der Anklagebank
Streit um Saalzugang und fehlende Zeugen verzögern den Prozess gegen zwei Antifaschisten
Erneut begann der Tag am Amtsgericht Tiergarten mit Tumult. Schon ab halb sieben versammelten sich vor dem Eingang des Gerichts Dutzende Antifaschist*innen. Die Polizei schubste die Versammelten weg, um zwischen den beiden Eingängen ein Hamburger Gitter aufzubauen. Kurz darauf erschien tatsächlich eine Gruppe von 13 Neonazis der Kleinstpartei Der Dritte Weg. Die Polizei reagierte panisch und ging dazwischen, um ein Aufeinandertreffen der beiden Gruppen zu verhindern.
Am Montagmorgen begann der zweite Prozesstag gegen zwei Antifaschisten, die wegen gemeinschaftlicher gefährlicher Körperverletzung angeklagt sind. Laut Anklageschrift sollen sie Leander S., einen bekannten Neonazi-Kader des Dritten Wegs, im Hausflur seiner Wohnung in der Wichertstraße in Pankow aufgesucht und angegriffen haben. Kurz darauf sollen die beiden Antifaschisten mit Stichwunden an einer nahegelegenen Brücke gefunden worden sein und S. selbst, ebenfalls verletzt, auf einem Spielplatz gegenüber seiner Wohnung. Beim ersten Prozesstag vor einer Woche gab S. zu, ein Messer mitgeführt und mehrfach auf eine Person eingestochen zu haben. Die Verteidigung der Antifaschisten kritisierte bereits vor Prozessbeginn die aus ihrer Sicht einseitige Auslegung der polizeilichen Ermittlungen seitens der Staatsanwaltschaft, da unter anderem die Verletzungen der Antifaschisten in der Anklage keine Rolle spielen und S. nicht vernommen wurde.
Am Anfang des zweiten Prozesstags wurde auf Initiative der Verteidigung spontan eine Zeugin angehört. Sie gab an, nicht in den Sitzungssaal eingelassen worden zu sein, womit die Öffentlichkeit des Verfahrens möglicherweise nicht gewährleistet gewesen sei. Die Zeugin berichtete, dass sie bereits sehr früh am Morgen in der Schlange gestanden habe und ihr von Justizbeamten mitgeteilt worden sei, dass nur 15 Personen eingelassen werden. Es sei ein Gitter aufgestellt worden, irgendwann habe man ihr gesagt, es gebe keine Plätze mehr. Dies habe mehrere Personen betroffen. Ihnen sei erklärt worden, es gebe wie beim ersten Prozesstag eine 15/15-Aufteilung, obwohl das rechte politische Lager erst etwa 45 Minuten später eingetroffen sei als sie selbst.
Verteidiger Theune sagte, dass nach geltendem Recht die Reihenfolge der Besucher*innen nach ihrer Ankunft bestimmt werde. Dieses Problem könne sich bei einem möglichen Fortsetzungstermin wiederholen. Deshalb stellte er einen Antrag, der beinhaltete, dass nicht die Polizei die Reihenfolge bestimmen solle, der Zeugin Einlass zu gewähren sei und die Kapazität auf 40 Zuschauer*innen erhöht werde. Der vorsitzende Richter lehnte die Anträge ab: »Nach den Erkenntnissen des Gerichts wurde den Zuschauenden durch den Sicherheitsdienst zeitlich priorisiert Einlass gewährt.« Polizeimaßnahmen stünden nicht unter der »Gewalt des Gerichts«. Zudem beruhe die Beschränkung auf 30 Zuschauer*innen auf Sicherheitserwägungen.
Bis Redaktionsschluss wurden sechs Zeug*innen vernommen, allesamt Polizeibeamt*innen der Berliner Polizei. Der erste Zeuge hospitierte damals bei der Kriminalpolizei und erreichte den Einsatzort, als bereits andere Kolleg*innen anwesend waren. Unter der Brücke wurden Gegenstände sichergestellt, darunter ein Paar Lederhandschuhe, ein Schlauchschal und ein Beutel mit einem Hammer. An diesem Tag entschieden sich die Ermittler, den Tatbestand der gefährlichen Körperverletzung wechselseitig aufzunehmen.
»Wäre der Vorfall unbeobachtet geblieben, wären die beiden Angeklagten gestorben.«
Michael W. Polizeibeamter
Der Polizeibeamte Michael W. fand die Angeklagten schwer verletzt in ihrem eigenen Blut. Einer konnte noch seinen Namen nennen, der andere war bereits »so blutleer, dass er es nicht mehr konnte«. Wäre der Vorfall unbeobachtet geblieben, »wären die beiden gestorben«. Am Ende seiner Vernehmung bedankte sich einer der Angeklagten beim Zeugen dafür, dass dieser ihnen das Leben gerettet habe. Die Vernehmung des LKA-Beamten Mario G. dauerte etwas länger. Er identifizierte das Messer als ein »Einhandmesser«. Die Verteidigung hakte nach, warum es nicht zu einem Verfahren wegen eines Verstoßes gegen das Waffengesetz gekommen sei. Eine abschließende Klärung erfolgte hierzu nicht.
Das für heute erwartete Urteil wurde unter anderem wegen verhinderter Zeug*innen vertagt; weitere Gerichtstermine werden für den Januar angesetzt. Am ersten Prozesstag hatten sich die Angeklagten zur Tat geäußert. Sie erklärten, warum sie aufgrund vorausgegangener Angriffe und des Gefahrenpotenzials der Neonazis aktiv geworden seien und das vermeintliche Opfer S. hätten einschüchtern wollen. Unter den Besucher*innen befanden sich am Montag erneut der Vorsitzende des Dritten Wegs, Matthias Fischer, sowie der Berliner Neonazi Erik Storch.
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