Eine schlechte Arbeitsmarktpolitik

Der Soziologe Luciano Gallino über Leiharbeit und Niedriglöhne in Italien

  • Lesedauer: 3 Min.
Italien setzt besonders stark auf befristete Beschäftigung und Leiharbeit. Dies ist aus gesamtwirtschaftlicher Sicht schädlich, meint Luciano Gallino (82), emeritierter Professor an der Universität Turin und Vorsitzender des Italienischen Soziologenverbandes (AIS). In diesem Jahr erschien sein neuestes Buch »Mit dem Geld der Anderen: Vollmachtskapitalismus gegen die Ökonomie«. Mit Gallino sprach Raoul Rigault.
Luciano Gallino
Luciano Gallino

ND: In Italien gibt es einen regelrechten Boom bei den prekär Beschäftigten. Deren Zahl ist in den vergangenen fünf Jahren fünf Mal so schnell gestiegen wie die der Unbefristeten. Wieso?
Gallino: Dies ist Folge einer ganzen Reihe von Arbeitsmarktgesetzen, die auf das sozialpartnerschaftliche Abkommen von Regierung, Unternehmerverbänden und Gewerkschaften von 1993 folgten. Unter anderem wurde in Italien erstmals Leiharbeit eingeführt. Das Abkommen vom Juli 2007 zwischen Gewerkschaften, Industriellenverband und dem mitte-linken Prodi-Kabinett hat an dieser Situation nicht viel geändert. Ergebnis ist, dass wir heute rund vier Millionen prekär Beschäftigte haben.

Wie wurde die Politik begründet?
Es gebe auf dem Markt jene »bösen« indischen und chinesischen Unternehmer, die ihren Beschäftigten Hungerlöhne zahlen und ihnen alle gewerkschaftlichen Rechte verwehren. Dies habe die Konkurrenz bei den Arbeitskosten verschärft. Diesem Problem sei mit Arbeitsverträgen zu begegnen, die auf zwei oder drei Monate befristet sind. Sie erlaubten es den Unternehmen, die Produktion der Verkaufsentwicklung anzupassen. Aber auch bei den längeren Verträgen ist kein 13. Monatsgehalt mehr vorgesehen. Das monatliche Durchschnittseinkommen eines Prekären beträgt ca. 800 Euro, während es bei den unbefristet Beschäftigten rund 1000 Euro sind.

Dann hat also der Vorsitzende des Steuerberaterverbandes, Claudio Siciliotti, recht, der behauptet, dass die Flexibilität auf dem Arbeitsmarkt nur eingeführt wurde, um Kosten zu sparen?
Ganz genau. Nur, dass jetzt die Zahl derjenigen zunimmt, die merken, dass dies eine ganz schlechte Art von Arbeitsmarktpolitik, aber auch von Unternehmensorganisation ist. Die Produktivität der Arbeit in Italien ist seit zehn bis zwölf Jahren sehr viel niedriger als in anderen europäischen Staaten. Kehrseite der höheren Flexibilität ist eine geringe Ausbildung der Arbeitskräfte. Außerdem ist es schwer in Bereichen, wo es acht oder zehn verschiedene Arten von Arbeitsverträgen gibt, eine effiziente Arbeitsorganisation hinzubekommen.

Befürworter behaupten jedoch, dass dank der Flexibilität die Arbeitslosenrate gesunken sei.
Bei der Senkung der Arbeitslosenquote hat die Legalisierung von 700 000 Immigranten eine große Rolle gespielt, die vorher als erwerbslos galten und für sehr wenig Geld Schwarzarbeiten verrichten. Darüber hinaus dürfen prekäre und feste Beschäftigung generell nicht auf eine Stufe gestellt werden.

Der Vorsitzende des Wirtschaftsweisenrates, Antonio Marzano, sagt: »Die Alternative zur Prekarität heißt Arbeitslosigkeit.«
Das ist eine ziemlich schlichte Rechtfertigung. Wenn die unbefristete Beschäftigung die einzig mögliche Vertragsform wäre, würden die Betriebe nicht aufhören, Leute einzustellen. Im Gegenteil, dann gäbe es sogar stärkere Anreize, sie gut auszubilden.

Dennoch klagen die italienischen Unternehmen über zu hohe Arbeitskosten. Zu Recht?
Die Abgaben machen rund 45 Prozent der Arbeitskosten aus. Das liegt leicht über dem EU-Durchschnitt, aber unsere Löhne zählen zu den niedrigsten in der Eurozone. Ein Metallarbeiter der mittleren Lohngruppe bekommt in Deutschland 2000 Euro im Monat, in Italien ca. 1200 Euro.

Berlusconis Superminister Giulio Tremonti hat vor einiger Zeit einen festen Arbeitsplatz als »Grundlage der sozialen Stabilität« bezeichnet und damit für Debatten gesorgt. Wie kann die Linke seinem Wählerfang begegnen?
Die Mitte-Linke ist vom Minister einer Rechtsregierung links überholt worden. Das ist nicht nur peinlich, sondern kann auch zum Verlust weiterer Wähler führen. Man muss versuchen, Terrain zurückzugewinnen, indem man den Minister auffordert, seinen Worten Taten folgen zu lassen. In der Vergangenheit sahen diese anders aus. Tremonti war einer der Autoren der verheerenden Arbeitsmarktreformen von 1997 und 2003.

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