Die Besten und Beckett

Ein Loblied auf Bayern München

  • Hans-Dieter Schütt
  • Lesedauer: 6 Min.

Der Fußball war durch die Komplexität seiner Abläufe und deren Unberechenbarkeit stets ein verlockendes Medium, um Spielgeschehen auf Existenz zu übertragen: Keiner weiß, wie die Sache ausgeht; man setzt auf Schwarz oder Rot, der Ball aber rollt ins Bunte.

Eine merkwürdige, mild stimmende Wendung des Schicksals: dass ausgerechnet Bayern München in den letzten Monaten, unter dem seltsam entrückt wirkenden, patriarchalisch unnahbar wie bedrohlich scheinenden Trainer Louis van Gaal, so unerwartet, aber verdient zu einem Sympathieträger wurde – und nun, in der Nacht von Madrid, in vielen Gemütern gar in den Adel einer Leidensgestalt aufstieg. So kurz vorm großen Ruhm gebremst, speziell in einer Zeit, in der Siege zur Pflicht und damit Menschen in Verruf geraten sind, die gern zeigen würden, was in ihrer Natur liegt: Schwäche. Man sah Bayern in Madrid schwach, jedenfalls schwächer, als erwartet, doch was früher bei vielen Deutschen Häme zur Folge gehabt hätte, wich nun einer klaren Anteilnahme. Mitleid mit einem Zweiten – einen Zweiten erschüttert die Niederlage stets stärker als einen frühen Verlierer. Der Letzte ist meistens nur total erschöpft, der Zweite hat immer noch Kraft für Tränen; das Traurige besteht meist nicht in der Unendlichkeit, die uns von einem Ziel trennt, sondern im Millimeter, der uns davon abschneidet.

Warum verwundert dies Fühlen mit den Bayern? Die Erklärung liegt in jener bislang größten Sieg des Kapitalismus, der trotz Krisen viele Menschen immer wieder fatal geschickt davon überzeugt, er sei die natürliche letzte Logik der Gattungsgeschichte. Die Folge davon ist überall das unfrisiert freche Auftreten der Effizienz. Die Selbsttätigkeit des Ökonomischen hat keine Scheu mehr vor der eigenen Hässlichkeit. Der nackte Kapitalismus begibt sich nicht mal mehr an den Schminktisch, er betritt unverstellt die Märkte. Solche Schamlosigkeit kann sich der Profit leisten – und auch im deutschen Fußball hatte besagte Nacktheit wirtschaftlicher Verwertungskraft für viele einen einzigen bösen Namen: Bayern München.

Über den Klub hieß es lange, Eleganz habe ausgedient, Freude am Spiel sei in den Amateurstatus zurückgestuft worden, der schöne Überschwang Jugend sei ausgemerzt, Kampf treibe das Spiel vom Feld, auf dem die Taktik ihre zähen, seelenlosen Siege feiere, und die Einkaufspolitik giere hektisch nach Trainer- und Spielerstars.

Wer die Bayern trotz allem mag, so der gängige Vorwurf, habe sich doch lediglich abgefunden mit der unbesieglichen Hierarchie des Finanziellen. Geld, Geld! Ja, das stimmt. Aber es ist unbestreitbar doch auch andernorts vorbei mit dem Milieu; es ist überall Schluss mit dem Zauber regionaler Identifikation; längst ist jedes Stadion nur Industrielandschaft. Wo früher die Tiefe des Raumes lag, der sich dem Lauf des Balles öffnete, teilt sich der Rasen heute ein in Hochsicherheitszonen, die von Hochsicherheitskräften in Sportkleidung bewacht werden. Der Ball trifft kaum auf Schützen, er ist umstellt von Bodyguards mit Rückennummern. Wer in einer Liga die Tabelle anführt, beherrscht das Geschäft; aber wer absteigt, ob Hertha oder Rostock, hat doch nicht a priori den Traum vom ganz anderen Fußball, sondern ihm fehlen nur Kraft und Geld für den geforderten kapitalistischen Charakter, den er selber auch gern hätte. Wer nicht mithält, ist also nicht automatisch moralisch gerechtfertigter. Wer unten ist, ist nicht selbstverständlich der bessere Mensch. Und so möchte, wer die Bayern verachtet, doch nur einer einzigen Wahrheit nicht ins Auge sehen: Sport ist unter den obwaltenden gesellschaftlichen Umständen überall eine vitale Anmaßung modernster Kapitalkonzentration. Nur: Diese missfällige Konzentration erhöht freilich – und dafür steht München vor allem! – auch ungemein alle Qualitäten und Streitwerte des Spiels. So, wie eben sehr viel Geld die Quelle Holywoods ist. Und das bringt eben auch Filme, die einfach spannender sind als das mit der Handkamera gedrehte, im Selbstverleih schmachtende Porträt von Kaffeepflanzern in Sri Lanka. Flapsig anders gesagt: Ich sehe lieber einem schillernden, aufreizend umstrittenen FCB zu als einem bescheiden schwitzenden Drittligisten.

Bayern ist das ideale, faszinierende Medium für das Ausleben moderner Zerrissenheiten – wozu gehört, dass der Klub gerade jetzt wie die auferstandene letzte Bastion einer fast verzweifelt beschworenen Illusion wirkt, nämlich: Der Sport sei selbst dort, wo er am höchsten kommerzialisiert ist, letztlich doch nicht nur ein bloßer Wirtschaftszweig. Bayern hat strategischen Charme, hat zugängliche Typen, kreuzt Selbstbewusstsein mit Vorsicht, Weltstars mit bayrischen Naturen. Und wie hat sich das Spieler-Profil verändert! »Wie anders war das früher«, schreibt der Berliner »Tagesspiegel« und verweist auf Kahn, »der niemandem in die Augen schaute, so gering schätzte er die Gesprächspartner«, oder auf Effenberg, »dem der Hochmut und die Lustlosigkeit aus allen Poren strömte«.

Und im übrigen: Welcher Klub außer diesem schafft es denn überhaupt noch, Pro und Kontra derart erregend auf sich zu ziehen? Bayern ist die Heimat wider die ödeste Philosophie des Sports: »Der Bessere möge gewinnen« und »Mein Herz schlägt mit den Schwächeren.« Nein, beim Fußball gibt es nur »Unsere« und nichts sonst, und das gerechte, ausgewogene Denken ist im Stadion das langweilige, weil leidenschaftslose Denken. Bayern lebt die oberste Tugend wahrer Kunst: Spaltung des Publikums! Und am sympathischsten ist der Klub in seiner regelmäßigen Verwundbarkeit durch mäßige Mannschaften, was in beinahe jeder Ligasaison den Kampf um den ersten Tabellenplatz so aufregend macht – und darauf verweist, wie die Bayern einen Teil fehlender Gesamtdramatik in der Bundesliga auch noch selber inszenieren (müssen).

Das Triple war den Bayern zu gönnen. Sie entwickelten eine Ästhetik, die durch die Niederlage von Madrid nicht in Misskredit gerät. Und plötzlich taugt also München, eben noch Projektionsfläche fürs große Siegen, in gleichem Maße für die Ausstrahlungskraft all dessen, was Wegen zu einem Sieg zuwiderläuft. Bayern ist jetzt auch jedem nahe, der ein Gefühl für jene große Momente besitzt, in denen etwas ins Stocken kommt (wir alle müssen ja um unseres Seelenfriedens willen ab und zu aus den Aufschwüngen zurück in beruhigende Relativität stürzen).

In Samuel Becketts »Endspiel« ist das Ziel aller letzten Kraft: zu scheitern. Immer weiter und wieder. Freilich mit einer lebenserhaltenden Steigerung: das jeweils nächste Mal besser zu scheitern. Möglicherweise hat Bayern diesen Punkt überschritten. Meisterschaft, Pokal, Champions League, von Spiel zu Spiel grandioser, dramatikreifer und erst im Endspiel gestoppt – so, wie die Bayern wurden, was sie sind und wie sie nun geradezu hochfahrend verloren, können sie kaum noch perfekter werden im Scheitern. Schön tragisch, tragisch schön. Irgendwann, vielleicht schon in der nächsten Saison, bleibt auch ihnen nur das vollkommene Siegen. Alles Tragische ist also immer noch steigerungsfähig.

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