Drei Brücken über 500 Jahre

Bosnien-Herzegowina: Zerklüftet von fantastischen Gebirgen, zerrissen von fataler Geschichte

  • Michael Müller
  • Lesedauer: 7 Min.

Alles im Leben, man denke etwa an das Wort oder an das Lächeln, ist wie eine Brücke. So schrieb es einst der Jugoslawe Ivo Andric. Dieser friedlichen Metapher war er in seinem 1961 nobelpreisgekrönten Roman »Die Brücke über die Drina« nachgegangen. Aber auch deren schicksalhaften zerstörerischen Umkehrung.

An der Drina, einem dieser großartigen Flüsse des Landes Bosnien-Herzegowina, verlief fast 500 Jahre lang, bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts, die Grenze zwischen dem Osmanischen Reich und dem der Habsburger. Somit zwischen Islam und Christentum, zwischen Asien und Europa. Besagte Brücke steht in Višegrad, heute aus Belgrad kommend etwa fünf Kilometer nach der serbisch-bosnischen Grenze. In dem Roman von Andric widerspiegelt sie politische wie kulturelle Zäsur in all ihren Facetten. Und Zäsur versinnbildlicht sie bis heute.

Der erste Blick indes wird von dieser Brücke selbst gefesselt. Elf Bögen, rund sechs Meter breit, überschwingen 200 Meter Fluss. Harmonisch vollendet, somit fast unspektakulär, wie es ausgereiften technischen Leistungen eigen ist. Dies alles im 16. Jahrhundert aus dem nahen Stein des Dinarischen Gebirges errichtet. Unter einem osmanischen Bauherrn, dem Großwesir Sokollu Mehmed Pascha. Er habe, so die Saga, etwas Bleibendes, etwas christlich-muslimisch Verbindendes hinterlassen wollen. Und tausende von versklavten Christen, so die Saga weiter, seien dabei durch siebenjährige Fronarbeit und ebenso lange währende disziplinierende Hinrichtungen umgekommen.

»Daran wird die Ambivalenz dessen deutlich, was unser großer Ivo Andric mit seiner Metapher von der Brücke als Lebensferment hat ausdrücken wollen«, meint Ljubomir Stefanowitsch, der in Višegrad ein Café ganz in Brückennähe betreibt. »Historisch viel zu oft haben Worte nämlich als Brücke versagt, ist ein überbrücken wollendes Lächeln auf der anderen Seite auf Granit gestoßen«, kommentiert er das Aperçu von Andric, das, gerahmt an der Wand, seine Gäste zum Sinnieren einlädt.

Weit brauchen sie dabei in der Geschichte nicht zurückzugehen. Seit Jahrhunderten schon oft zwischen den Rädern der Geschichte zermahlen, begann im jüngsten Bosnienkrieg am 6. April 1992 auch um Višegrad ein nationalistisches Morden zwischen bosnisch-serbischen und bosnisch-muslimischen Kämpfern. Caféhauswirt Stefanowitsch geht an dieser Stelle mit einer alles erklärenden wie auch alles nivellierenden Bemerkung zur Tagesordnung über: »Nicht Völker machen Krieg, sondern Politiker.« So hört man es übrigens heute oft, allerdings auch nicht überall in den ehemaligen sozialistisch-jugoslawischen Republiken, die sich in den 90er Jahren mit einem irrwitzigen Blutzoll den Weg zur Eigenstaatlichkeit erkauften.

Diese jüngste Geschichte ist eigentlich zu frisch, um im besagten einstigen Jugoslawien so einfach Beine hoch und Seele baumeln lassend Urlaub machen zu können. Sicher, an der touristisch schon immer stromlinienförmigen kroatischen Adriaküste oder in abgelegenen montenegrinischen Bergorten mag das schon so gehen, wie die Reiseveranstalter das gerne für ihre westeuropäischen Kunden wollen. In Bosnien kaum. »Bosnien sollte man bereisen, wie ein inzwischen aus der Mode gekommenes Wort Studienfahrten zum Kennenlernen fremder Länder und Kulturen bezeichnet«, sagt Jupp Sommer, der sich als einer der wenigen deutschen Spezialveranstalter um Südosteuropa, also den Balkan, bemüht.

Auch in Bosnien wird diese höchst erlebenswerte faszinierende Landschaft, werden die schnellen Wechsel von schroff zu sanft, von waldgrün zu felsengrau, von menschlich vereinsamt zu vereinnahmt, immer wieder abrupt und bitter unterbrochen. Und zwar nicht von irgendwelchen, uns eigentlich kaum noch berührenden Schlachten tief vergangener Epochen. Sondern von Orts- und Flurnamen, die aus der Kriegs- und Nachkriegsberichterstattung allerjüngster Zeit stammen; knapp 50 Kilometer nördlich von Višegrad beispielsweise liegt Srebrenica.

Folgen wir der Drina von Višegrad abwärts etwa 30 Kilometer, um dann scharf westlich abzubiegen, erreicht man nach rund 100 Kilometern Sarajevo. Wir fahren dabei durch Bosnien und Herzegowina, kurz: BiH. Doch wiederum auch nicht. Vielmehr durchquert man dessen, seit dem Daytonabkommen von 1995 quasi autonomen serbischen, religiös orthodox geprägten und nach serbischen Verwaltungsrichtlinien regierten Teil: die Republik Srbska. Nach den gegenseitigen ethnischen Vertreibungen und »Säuberungen« des Sezessionskrieges 1992-95 ist er zu 90 Prozent von Menschen mit serbischen Wurzeln bewohnt. Deshalb auch nicht etwa die gesamtstaatliche BiH-, sondern eben die Republik-Srbska-Fahne beim Grenzübertritt. Kyrillische Buchstaben dominieren Stadtbild und Zeitungen; wo einst Moscheen standen, wächst häufig längst Gras darüber.

Erst kurz vor Sarajevo beginnt der andere »Teilstaat«: die nach dem Kantonsprinzip gegliederte Bosnische Föderation mit ihren zu über 80 Prozent muslimischen und katholisch-kroatischen Einwohnern. Welches ebenso das zweifelhafte Ergebnis von Vertreibung und »Säuberung« der 90er Jahre ist.

Zwei Mal wird das Sarajevo des 20. Jahrhundert stets in einem Atemzug mit Krieg genannt sein. Zum einen wegen der dreijährigen Belagerung und Beschießung durch bosnisch-serbische Truppen mit rund 10 000 Opfern während des jüngsten Bosnienkrieges (als, wie es oft von bosnisch-serbischer Seite heißt, Vergeltung für ähnliche Terrorakte der bosnisch-muslimischen und -kroatischen Truppen auf dem flachen Land). Zum anderen wegen des tödlichen Attentats auf den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand und seine Frau Sophie am 28. Juni 1914, das Anlass für den Ausbruch des Ersten Weltkrieges war.

Im ersten Fall sind in Sarajevo zahlreiche historische Plätze zu besichtigen. Etwa das »Kriegstunnelmuseum«, die Hochhäuser der »Scharfschützen-Allee« oder hunderte »Rote Rosen«, wie die rot ausgelegten Einschuss- und Einschlaglöcher im Stadtbild genannt werden. Im zweiten Fall geht es um einen einzigen, einen eher unscheinbaren Platz an einer Brücke, die an der Altstadt die schmale Miljacka überquert. Die Latinska Cuprija (Lateinische Brücke), wie sie seit Mitte der 90er Jahre wieder heißt, nachdem sie in jugoslawischen Zeiten vor wie nach dem Zweiten Weltkrieg aus patriotischen Gründen den Namen des Attentäters Gavrilo Princip trug. »Mit ausgiebiger Altstadt-, Museen- oder Olympiabummelei (Winterspiele 1984 - d. A.) hat man zwar viel von Sarajevo gesehen«, sagt Lejla Dšeko vom örtlichen Tourismusbüro, »aber richtig verstanden hat man seinen historischen Platz wohl doch erst mit 1914/18 und 1992/95«.

Alles im Leben ist wie ein Brücke. Noch weiter in südwestlicher Richtung von Sarajevo, nämlich in Mostar, steht die dritte, die so schicksalhaft mit dem Bosnien-Herzegowina der letzten 500 Jahre verbunden ist: die Stari Most (Alte Brücke) über die Neretva. Mit nur einem kühnen, elliptischen 30 Meter Fluss überspannenden Bogen. Die Marmorquader aus den nahen Tenelijabergen im 16. Jahrhundert quasi unkaputtbar mit eisernen Klammern verschlossen, die Fugen mit Blei ausgegossen. Bis zum 9. November 1993. Da zerkrachte sie nach einem Dauerbeschuss. Bekriegt hatten sich in der Stadt und in der weiten Region zwischen 1992 und 1994 übrigens andere Kriegsparteien als in Sarajevo. Nämlich bosnisch-muslimische versus bosnisch-kroatische. Ebenfalls mit Zehntausenden von Toten.

In Mostar kann man eintauchen wie in ein Meer voller ost-westlicher Wunder. Moscheen und Kirchen, Museen und Denkmale, Altstadt und Neustadt, Grün und Karst, strapaziöser Tourismus und entstressende Muse. Aber Mostar ist ob der jüngeren Geschichte auch ein Menetekel. Eine Stadt, die vom Fluss zwar schon immer in eine muslimische und eine katholische Seite getrennt war, allerdings von der Stari Most praktisch wie symbolisch verbunden. Nach dem Bosnienkrieg ist diese Stadt in sich aber nicht einfach nur getrennt, sondern beide Seiten sind verfeindet geblieben. Und sie scheinen, sich immer fremder zu werden.

»Und keiner weiß die Lösung«, sagt die Geschichtslehrerin Naida Filipovic. Sie ist 41 Jahre alt, hat eine bosnisch-muslimische Mutter und einen bosnisch-kroatisch-katholischen Vater. Allerdings spürte und wusste sie bis vor 20 Jahren nie etwas von Glaubenszu- oder auch -nichtzugehörigkeit. Als wir durch die Gassen um die Stari Most bummeln, zeigt sie an einem Stand auf ein T-Shirt mit dem stoßseufzenden Aufdruck: Lieber Genosse Tito im Himmel, Du hast Muslimen, Kroaten und Serben einst viel genommen, aber auch manches gegeben – heute gibt uns keiner mehr was. »Ohne Galgenhumor ist das doch alles nicht zu ertragen«, meint sie.

  • Tourismusvereinigung Bosnien- Herzegowina: www.bhtourism.ba
  • Ivo Andric, Die Brücke über die Drina, Aufbau-Verlag, Berlin und Weimar, 1965 (dt. Erstausgabe).
  • Saša Stanišic, Wie der Soldat das Grammofon reparierte, Luchterhand Literaturverlag, München 2006.
  • Marko Plesnik, Bosnien und Herzegowina, Unterwegs zwischen Adria und Save, Trescher Verlag, Berlin, 2010.
  • Michael W. Weithmann, Balkan-Chronik, 2000 Jahre zwischen Orient und Okzident, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt, 1997.
  • Magarditsch Hatschikjan, Stefan Troebst, Südosteuropa-Handbuch, Verlag C.H.Beck, München, 1999.
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