Wie viele Nazis in der SED?

Wilfriede Otto über den Umgang mit einem »Tätervolk« / Die Berliner Historikerin hat ausführlich zur Thematik im Band »Visionen. Repression und Opposition in der SED« (1996) berichtet

  • Lesedauer: 3 Min.
Fragwürdig: Wie viele Nazis in der SED?

nd: Im »Tagesspiegel« wurde die Zahl von 160 000 ehemaligen NSDAP-Mitgliedern in der SED 1951 genannt. Stimmt das?
Otto: Ja. Diese Zahl ist das Ergebnis einer »Mitgliederüberprüfung« der SED 1951. Damals hatte sie 1 256 002 Mitglieder und Kandidaten, nach der »Säuberung« waren es 162 972 Mitglieder und Kandidaten weniger: 43 132 wurden ausgeschlossen, 32 841 traten vor der Überprüfung aus, 4767 wurden gestrichen, 39 832 verweigerten die Überprüfung.

Wegen schlechten Gewissens?
Das kann ich nicht sagen. Und bei den nun nicht mehr SED-Mitgliedern handelte es sich nicht nur um ehemalige NSDAP-Mitglieder. Mit der »Überprüfung« erhielten von den ehemaligen Angehörigen sogenannter »antistalinistischer Gruppen«, zum Beispiel der KPD/O, 3545 ihr Mitgliedsbuch zurück, 32 wurden in den Kandidatenstand versetzt, 290 wurden ausgeschlossen.

Von den 1951 »überprüften« ehemaligen Wehrmachtsoffizieren, Oberfeldwebeln, Feldwebeln sowie Angehörigen der NSDAP und ihren Gliederungen erhielten 153 710 ihr SED-Mitgliedsbuch zurück; dazu wurde nicht die Waffen-SS gezählt, obwohl sie bis 1944 noch als eine Gliederung der NSDAP galt. 5041 Personen aus der eben genannten Gruppe wurden in den Kandidatenstand versetzt, 16 177 wurden ausgeschlossen bzw. gestrichen.

Was war auf den Fragebögen noch anzugeben?
Da waren beispielsweise noch Angaben zu Kriegsgefangenschaft bzw. zu etwaigem Besuch von Antifa-Schulen zu machen.

Ist es nicht dennoch eine Schande, dass so viele ehemalige NSDAP-ler in der SED verblieben?
Beim Umgang mit nominellen NSDAP-Mitgliedern ist zu beachten, dass nicht alle der - meines Wissens - etwa acht Millionen Mitglieder im völkerrechtlichen Sinn, also nach dem Statut des Nürnberger Gerichtshofes und des Kontrollratsgesetzes Nr. 10 sowie der Direktive Nr. 38 des Alliierten Kontrollrates schuldig geworden sind, verantwortlich für Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschheit.

Zeigte sich die SED zu kulant gegenüber dem »Tätervolk«?
Nein, die SED differenzierte sehr wohl. Und wenn Fragebogenfälschungen entdeckt wurden, erfolgte sofortiger Parteiausschluss und Funktionsenthebung. Manche Entscheidungen wurden auch schon von Zeitgenossen als unglücklich empfunden, so im Fall des Staatsanwalts Ernst Melsheimer. Tatsache ist aber auch: Der Umgang in Ost und West unterschied sich grundsätzlich - in der Bundesrepublik gab es gezielten Einsatz hochrangiger Nazis in Geheimdienst, Justiz, Wirtschaft, Politik und Diplomatie, was man der DDR so nicht unterstellen kann.

Aber auch hier kamen NSDAP-Mitglieder in hohe Positionen.
Ja. Aber ich fürchte, dass jetzt versucht wird, die notwendige historische Debatte politisch zu instrumentalisieren, um die Kandidatur von Beate Klarsfeld zu beschädigen. Dass sie unwissend war über die Zusammensetzung der SED in Bezug auf politische Vergangenheiten, kann ihr nicht vorgeworfen werden. Das Kleinreden ihrer Person entspricht der Unlust, auch BRD-Geschichte nüchtern zu betrachten.

Fragen: Karlen Vesper

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