Prozess der Psychiater

Breivik-Verfahren in Oslo immer abstruser

  • André Anwar, Stockholm
  • Lesedauer: 3 Min.
Der Breivik-Prozess wird immer mehr zu einem Streit zwischen Psychiatern - die Schuldfähigkeit des 77-fachen Mörder bleibt umstritten.

Beim Prozess um Anders Behring Breivik am Osloer Amtsgericht wird momentan mit Diagnosen jongliert. Aktuell gibt es mehr als drei davon: Psychisch krank und schuldunfähig; psychisch krank, aber schuldfähig sowie psychisch gesund und schuldfähig. Die von der Anklage berufenen Psychiater sagen gemäß dem ersten und bislang einzigen amtlich genehmigten Gutachten aus, dass Breivik geistig krank ist und in die Psychiatrie gehört. Zuletzt erregte ein Psychiater mit einer völlig neuen Diagnose Unmut in Oslo. Demnach sei Breivik geistig krank, aber dennoch schuldfähig.

Nun dürfen Breiviks Verteidiger zurückschlagen. Sie riefen Psychiater in den Zeugenstand, die Breivik im Gefängnis beobachtet hatten. Grundsätzlich bestätigten sie ein zweites, wegen mangelnder Qualität jedoch nicht anerkanntes Gutachten vom Februar, dass Breivik geistig gesund ist. Er habe tatsächlich aus rein ideologischen Gründen gehandelt und somit gehöre er gemäß seinem eigenen Wunsch als Vollverbrecher ins Gefängnis. Aufgrund des humanen norwegischen Strafgesetzes könnte er theoretisch in 20 Jahren, mit Anfang 50, als freier Mann entlassen werden.

Der Psychiater Einar Kringlen sagte aus, dass er nach der Verhaftung Breiviks im Sommer 2011 völlig sicher gewesen sei, dass dieser psychisch sehr krank ist. Aber er habe diesen Eindruck während des Gerichtsprozesses revidiert. Breivik habe in der seit dem 16. April laufenden Verhandlung doch deutliche Zeichen eines voll zurechnungsfähigen Massenmörders aufgewiesen. »Deshalb ist das zweite Gutachten solider als das erste«, schloss Kringlen. Es sei schließlich nicht immer so, dass das abgrundtief Böse krank sei, und obligatorisch einer psychiatrischen Behandlung bedürfe. Auch wenn dieses Verfahren immer mehr in Mode geraten sei, so der Professor.

Der zweite Zeuge der Verteidigung, »Spezialpsychologe« Eirik Johannesen, hatte den Massenmörder 30 Stunden lang im Gefängnis beobachtet. Auch er hält den 32-Jährigen nicht für verrückt. Bei der Beobachtung im Gefängnis habe man untersucht, ob Breivik eventuell am Asperger-Syndrom leidet. Das ist eine autistische Störung, die das Einfühlungsvermögen für andere Menschen stark einschränkt. Doch dafür konnten keine Anzeichen gefunden werden. Der Mörder von Kindern und Jugendlichen habe sich durchaus als Mensch mit Einfühlungsvermögen für andere erwiesen, so Johannesen. Breivik habe anfänglich nach seiner Verhaftung versucht, eine Rolle zu spielen, die völlig unnatürlich für seinen Charakter war. Genau dies sei der Grund dafür, dass es zu zwei völlig entgegengesetzten Gutachten kam und darüber hinaus noch zu weiteren Diagnosen. Doch Breivik sei während des Prozesses mehr er selbst, als er es kurz nach seiner Verhaftung war. Damit eröffnete Johannesen tatsächlich eine neue Perspektive auf den sonderbaren Rechtsprozess, in dem alles andere außer der Schuldfrage eine Rolle zu spielen scheint.

Erst in der vergangenen Woche wurden führende Journalisten und Rechtspopulisten in den Zeugenstand gerufen. Die sollten zu Breiviks politischen Erklärungen Stellung nehmen. Auch wurden Islamisten und Islamfeinde in den Zeugenstand gerufen, um zu analysieren, ob Breiviks Behauptung, muslemische Einwanderer glichen einer Invasion, die Norwegen bald ganz übernehmen werde, stimmig sei. Viele Norweger halten den Gerichtsprozess dementsprechend inzwischen für völlig abstrus.

Der Prozess selbst endet am 22. Juni. Wann genau das Gericht sein Urteil zu Breivik verkündet, ist derzeit unklar.

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal