- Politik
- Chile
Feministinnen: »Die extreme Rechte ist nicht unbesiegbar«
Gespräch mit Vesna Madariaga und Karina Nohales vom feministischen Dachverband »Coordinadora Feminista 8 de Marzo« aus Chile
Umfragen hatten mehr Stimmen für die Kandidatin des Mitte-Links-Bündnisses, Jeannette Jara, vorhergesagt. Warum fiel ihr Ergebnis schwächer aus als erwartet?
Vesna Madariaga: Damit hatte ich gerechnet. In Chile hat sich der neoliberale Konsens stabilisiert, ein patriarchaler Rollback steht uns bevor. Die politische Klasse macht ihr Geschäft mit dem Neoliberalismus und bringt dabei die ärmsten Teile der Bevölkerung in noch prekärere Lagen als zuvor.
Karina Nohales: Höchstwahrscheinlich wird Chile in den nächsten vier Jahren von einem Bündnis rechter Parteien regiert werden, angeführt von einem pinochetistischen Flügel mit entsprechendem Programm. Dieses politische Spektrum existiert in Chile schon lange, es ist aber noch nie durch eine Wahl der Bevölkerung und mit einer relativ breiten sozialen Basis an die Regierung gekommen.
Was dem entgegenstand, war allerdings auch keine wirklich linke Alternative. Jeannette Jara übernahm ebenso, wie es die Regierung von Gabriel Boric 2022 getan hatte, Teile der Erzählung der extremen Rechten bei Themen wie Sicherheit und Xenophobie. Einmal mehr bestätigt sich in Chile, was sich auch schon an anderen Ländern gezeigt hat: Der extremen Rechten durch die Übernahme ihrer Narrative entgegentreten zu wollen, trägt auf direktem Wege zu deren Wachstum bei. Dennoch rufen wir jetzt zur Wahl von Jeannette Jara auf, nicht, weil wir große Hoffnung in sie setzen, sondern weil wir wissen, dass es nicht egal ist, wie man verliert.
Wie bewerten Sie die Reformen der Boric-Regierung und der Arbeitsministerin Jeannette Jara, beispielsweise die Senkung der Wochenarbeitszeit von 45 auf 40 Stunden und die Anhebung des Mindestlohns?
Madariaga: Die Fortschritte, die mit der 40-Stunden-Woche in gesetzgeberischer Hinsicht erzielt wurden, haben für viele Arbeiter*innen keine konkreten Auswirkungen. Die Menschen müssen weiterhin mehrere Jobs machen und die gewonnene Zeit oft auch dazu nutzen, über eine weitere Arbeit zusätzliches Einkommen zu bekommen. Die Prekarisierung und die Armut der Menschen verhindern, dass dieses Gesetz sein Ziel erreicht.
Und wie sehen Sie die neuen Gesetze zum Schutz vor geschlechtsspezifischer Gewalt?
Madariaga: Es gab Fortschritte bei der Gesetzgebung. Die Regierung Boric hat ein Gesetzespaket zum Schutz von Frauen vor geschlechtsspezifischer Gewalt verabschiedet, das bereits 2016 im Parlament eingebracht wurde. Die Gewalt gegen Frauen ist seitdem komplexer geworden. Das Verschwindenlassen von Frauen findet auf sehr brutale Weise statt, Femizide sind an der Tagesordnung, die Justiz verletzt die Rechte der Opfer, wenn sie beispielsweise beschließt, Urheber von Femiziden freizulassen. Vorherrschend ist ein starkes Gefühl der Straflosigkeit von geschlechtsspezifischer Gewalt, weil die Institutionen ihre Arbeit nicht machen.
Der Wahlkampf und die öffentliche Diskussion sind aber vor allem von dem Thema Sicherheit geprägt. Wie kommt das?
Madariaga: Für uns ist das Konzept einer umfassenden Sicherheit des Lebens von zentraler Bedeutung, dazu gehören auch Ernährungssicherheit und die Sicherheit, in Frieden leben zu können. Wir Feministinnen haben uns immer organisiert, um Angriffe auf unser Leben zu bekämpfen. Auch während der Diktatur waren wir die ersten, die an der Basis Widerstand leisteten. Heute sieht die nationale Sicherheitspolitik der chilenischen Regierung mehr polizeiliche Kontrolle und mehr Repression gegenüber der Bevölkerung vor. Sie schafft keine Programme zur Prävention.
Vesna Madariaga (rechts) ist Soziologin, besonders renommiert im Bereich geschlechtsspezifischer Gewalt, und Sprecherin des feministischen Dachverbands »Coordinadora Feminista 8 de Marzo« (CF8M). Karina Nohales ist Arbeitsrechtsanwältin und Mitglied in CF8M. Seit 2018 organisieren die Aktivistinnen der CF8M in Chile Proteste und jedes Jahr am 8. März einen feministischen Streik. Sie erstellen und verbreiten Aufklärungsmaterial zu sexualisierter Gewalt und sozialen Fragen und verbreiten diese auf Papier und über Social Media.
Müssen Sie sich – auch wenn die Zahlen in Chile weniger hoch sind – dennoch mit der Angst vor Gewalt auseinandersetzen, wenn zum Beispiel Personen aus Brennpunktvierteln berichten, dass sie dort, wo sie leben, Schießereien erleben?
Nohales: Das Problem ist der Zugang zu Schusswaffen. Das hat die Art der mit Kriminalität verbundenen Gewalt verändert. Heutzutage ist es sehr einfach, jemanden zu töten. Aber gerade die politischen Akteure, die versprechen, die Kriminalität zu bekämpfen, fördern die Verbreitung von Waffen in der Gesellschaft, was zwangsläufig zu mehr Gewalt führt. Ich halte das für wichtig, weil es sich auch um ein globales Phänomen handelt.
Welche grundlegenden Veränderungen erwarten Sie für den Fall, dass Kast gewinnt?
Madariaga: In seiner Regierung wird er zuerst Sozialausgaben kürzen, vor allem die für Gesundheit und Bildung, so hat er es angekündigt. Das wird zu erheblichen sozialen Unruhen führen. Hinzu kommt eine Verkleinerung des Frauenministeriums und anderer Institutionen, die die Rechte von Frauen garantieren. Außerdem steht uns eine schwierige Zeit bevor, mit sehr repressiven Maßnahmen gegen diejenigen, die versuchen, sich zu organisieren oder eine abweichende Meinung gegen diese neu einzuführende Ordnung zu formulieren.
Nohales: Was in Chile passieren wird, widerfährt auch unseren Genoss*innen und den Arbeiter*innen in verschiedenen Teilen der Welt. Die Erfahrung des Neoliberalismus und die Art und Weise, wie er in Chile nach dem Putsch 1973 eingeführt wurde, ist noch nicht lange her. Und so wie wir um diese Geschichte wissen, wissen wir auch, dass die extreme Rechte nicht unbesiegbar ist. Aber es braucht eine Politik, um solchen Zyklen zu begegnen – und die müssen wir entwickeln.
Ist Kast ein Rechts-Libertärer, der ähnlich wie Milei eine Vielzahl staatlicher Institutionen abbaut, oder eher ein Neoliberaler, der eine Politik fortsetzt, die einer von der Diktatur eingeführten Wirtschaftspolitik folgt?
Nohales: Er ist ein Chicago Boy. Definitiv.
Was heißt das?
Madariaga: Kast steht für die Verstärkung der neoliberalen Politik in ihrer höchsten Ausprägung. Vielleicht auch in einer Art und Weise, wie es die Libertären tun, die disruptiv eingreifen, aber aus einer Logik der dauerhaften Stärkung des bereits Vorhandenen, so weit wie es die chilenische Realität zulässt. Es geht um eine Neupositionierung des Neoliberalismus, in dem wir schon lange leben, und der nie verschwunden war, mit dem Ziel, sich zu etablieren, zu stärken und zu bleiben.
Was aus Ihrer feministischen Arbeit können Sie für die Zukunft nutzen?
Madariaga: Nach den letzten Wahlen und auch nach dem Scheitern des Verfassungsprozesses 2022 haben wir Zeiten durchlebt, die viele Organisationen sehr demoralisiert haben. Wir haben auch einen für uns sehr wichtigen organisatorischen Prozess begonnen, der es uns ermöglicht, ein feministisches und politisches Projekt für die Zukunft zu entwickeln. Das wird von Kampf, Organisation und großer Einheit mit den sozialen Basisstrukturen geprägt sein, vor allem im Hinblick auf Arbeiter*innen, aber auch auf Migrant*innen und Indigene. In dieser Hinsicht waren wir schon immer gut organisiert. Wir haben uns viel mit politischer Bildung beschäftigt und Räume für politische feministische Weiterbildung geschaffen. So sind neue Mitstreiterinnen zur Coordinadora hinzugekommen.
Mit welchen Gruppen arbeiten Sie zusammen?
Madariaga: Seit dem feministischen Generalstreik haben wir immer Allianzen mit Gewerkschaften, verschiedenen Organisationen von Migrantinnen und Mapuche-Frauen geschlossen. Es gibt viele Organisationen, die ebenfalls Gewalt gegen Frauen in Chile anprangern und mit denen wir auch zusammenarbeiten.
Wir organisieren regelmäßig ein plurinationales feministisches Treffen. Einmal waren wir 3000 Genossinnen, beim letzten Treffen 2023 waren wir etwas mehr als 1000. Da haben wir ein Programm gegen die Prekarisierung des Lebens erarbeitet, das die wichtigsten Bedürfnisse der Bevölkerung widerspiegelt. Um uns den kommenden Herausforderungen zu stellen, bringen wir unsere Ideen, unser Programm, unseren Aufruf zur Organisation und zum Zusammenhalt ein.
Wir stehen zum Verkauf. Aber nur an unsere Leser*innen.
Die »nd.Genossenschaft« gehört denen, die sie lesen und schreiben. Sie sichern mit ihrem Beitrag, dass unser Journalismus für alle zugänglich bleibt – ganz ohne Medienkonzern, Milliardär oder Paywall.
Dank Ihrer Unterstützung können wir:
→ unabhängig und kritisch berichten
→ übersehene Themen in den Fokus rücken
→ marginalisierten Stimmen eine Plattform geben
→ Falschinformationen etwas entgegensetzen
→ linke Debatten anstoßen und weiterentwickeln
Mit »Freiwillig zahlen« oder einem Genossenschaftsanteil machen Sie den Unterschied. Sie helfen, diese Zeitung am Leben zu halten. Damit nd.bleibt.