Präsidentenwahl: Kommt ein Pinochet 2.0?

Bei der Stichwahl in Chile ist der rechte Kandidat José Antonio Kast Favorit. Er orientiert sich an ökonomischen Positionen aus der Zeit der Diktatur

  • Ute Löhning
  • Lesedauer: 7 Min.
Hinter kugelsicherem Glas: Der chilenische Präsidentschaftskandidat Kast von der Republikanischen Partei macht Wahlkampf, der mit Ängsten spielt.
Hinter kugelsicherem Glas: Der chilenische Präsidentschaftskandidat Kast von der Republikanischen Partei macht Wahlkampf, der mit Ängsten spielt.

Nur knapp drei Prozentpunkte Vorsprung erreichte die linke Kandidatin Jeannette Jara im ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahl in Chile am 16. November – vor dem extrem rechten José Antonio Kast. Jara ist Mitglied der kommunistischen Partei und tritt als Kandidatin der Mitte-Links-Allianz Unidad por Chile (Einheit für Chile) an. José Antonio Kast stammt aus der Pinochet-Nachfolgepartei UDI (Unión Demócrata Independiente), gründete aber 2019 die noch weiter rechts stehende Republikanische Partei. Am 14. Dezember werden beide in einer Stichwahl gegeneinander antreten. Die beiden anderen rechten Kandidat*innen Evelyn Matthei (UDI) und Johannes Kaiser (National-Libertäre Partei PNL) unterstützen Kast. Zusammen hatten die drei in der ersten Wahlrunde 50 Prozent aller abgegebenen Stimmen erhalten.

Der Wahlkampf war bestimmt von Debatten um Sicherheit und Migration. Migration wird oft in einem Atemzug mit Kriminalität und Bedrohung der Sicherheit genannt. »Die organisierte Kriminalität, der Drogenhandel, die Gewalt und der Terrorismus haben unser Land übernommen und sind dabei, es komplett zu zerstören«, hatte der mit der internationalen extremen Rechten gut vernetzte Kast bereits bei der Conservative Political Action Conference (CPAC) im Mai 2025 in Budapest gesagt. Er kündigte einen »Kreuzzug« gegen illegale Migration und harte Maßnahmen an: Grenzen schließen, massenhafte Abschiebungen, Auffanglager für Migrant*innen in der Wüste, Arbeitsverbot. Und er drohte: »Wir werden ihnen das Leben unmöglich machen.« Später kündigte er den Einsatz von Drohnen und Minen in der Grenzregion an. Im September tauschte sich Kast bei einer Italienreise mit der italienischen Ministerpräsidentin Giorgia Meloni über deren Abschottungspolitik aus.

Bis vor wenigen Jahren war Migration in der gesellschaftlichen Debatte kaum mit starken negativen Assoziationen verbunden. Die Juristin Rita Lages, die an der Universidad de Chile zu internationaler Migration forscht, betont, dass seit der Verabschiedung des neuen Migrationsgesetzes 2022 alle ausländischen Personen, die in Chile arbeiten oder studieren wollen, schon in ihrem Herkunftsland ein entsprechendes Visum und Aufenthaltstitel beantragen müssen. Früher konnten sie, je nach Land leicht unterschiedlich – Haitianer*innen bis 2018, Venezolaner*innen bis 2019 – als Tourist*innen einreisen und in Chile einen Wechsel ihres Aufenthaltsstatus beantragen. Heute haben in der Migrationspolitik »Rechte und Linke mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede«, erklärt sie. Und weiter führt Lages aus, dass auch Jeannette Jara über die Notwendigkeit spreche, Drohnen für die Grenzsicherung im Norden zu kaufen. In der Sprache sei sie nicht so aggressiv wie Kast, weil es in der Linken eine größere Sorge um die Einhaltung der Menschenrechte gebe. Aber in der Praxis gehe es auch ihr um Migrationskontrolle.

Häufig mündet Unzufriedenheit in Frust und Verzweiflung.

Auch das Thema Sicherheit hat enorm an Bedeutung gewonnen. Es spricht viele Menschen emotional stark an. Jeannette Jara fordert ebenso wie die Rechte mehr Sicherheitsmaßnahmen. Sie verbindet aber die Diskussion um Sicherheit mit Forderungen nach sozialer Absicherung. Kast hingegen setzt auf die harte Hand. Dazu besuchte er bereits das Mega-Gefängnis CECOT in El Salvador, in dem Tausende Häftlinge unter unmenschlichen Bedingungen eingesperrt sind. Kürzlich empfing Kast den salvdorianischen Sicherheits- und Justizminister, Gustavo Villatoro, um aus den Erfahrungen El Salvadors im Kampf gegen organisierte Kriminalität und im Betreiben des ausgedehnten Gefängnissystems zu lernen.

Tatsächlich haben gewalttätige Übergriffe, Entführungen und Tötungsdelikte in Chile zugenommen. Diese stehen oft im Zusammenhang mit Drogenkriminalität oder dem Gebrauch von Waffen. Studien des chilenischen sozialwissenschaftlichen Instituts FLACSO zufolge ist die Zahl der Angriffe auf Personen mit Todesfolge im Zeitraum 2018 bis 2023 von 4,5 Fällen je 100 000 Personen auf 6,3 Fälle gestiegen. Im Vergleich zu den anderen lateinamerikanischen Staaten liegt Chile damit am unteren Ende der Skala. Die Studie weist auch nach, dass die gefühlte Bedrohung sehr hoch ist. In keinem anderen Land ist die Diskrepanz zwischen den registrierten Zahlen von gewalttätigen Übergriffen und der individuell empfundenen Unsicherheit und Angst so groß wie in Chile.

Ein Grund für die weit verbreitete Angst ist die reißerische und emotional aufgeladene Berichterstattung in der von rechten Unternehmen dominierten Medienlandschaft. Private Fernsehkanäle übertragen stundenlang teils immer wieder die gleichen Videoaufnahmen von Überfällen oder Razzien und prägen so die Wahrnehmung der Bevölkerung. Neben dem Fernsehen spielen die stark polarisierenden Social-Media-Plattformen eine große Rolle.

Am Rande einer feministischen Versammlung in Santiago beschreiben die Lehrerinnen Valeria Valbuena und Yuly Toledo, die in einer katholischen privaten, aber mit staatlichen Mitteln unterstützten, weiterführenden Schule in Santiago unterrichten, ihre Beobachtungen bei den Schüler*innen. Es gebe viel Falschinformation über Überfälle und Gewalt, die die Jugendlichen über Messenger oder Social Media beziehen, sagt Toledo. »Wir müssen Desinformation und fehlenden Informationen insgesamt entgegentreten, bei allen Wähler*innen, nicht nur bei Schüler*innen«, sagt sie. »Vielen Personen, die Kast wählen, ist gar nicht wirklich klar, was das für sie bedeuten wird«, so Valbuena. Viele wüssten oft nicht, welche Leistungen der Staat abdeckt, wie beispielsweise die Teilfinanzierung des öffentlichen Nahverkehrs, von Medikamenten und Bildung. Auch wenn das wenig sei, müsse man das Wenige jetzt doch gemeinsam verteidigen. Um Falschinformationen entgegenzuwirken, versuchen die Lehrerinnen, mehr Austausch und Gesprächsformate in ihrem Unterricht zu etablieren. Das sei allerdings schwierig, weil die Unterrichtszeit für Sozialkunde und Geschichte in manchen Jahrgängen gekürzt wurde.

2019/20 hatte die soziale Unzufriedenheit, in Chile wird diese »malestar social« genannt, zu einer breiten sozialen Bewegung geführt. Derzeit mobilisiert die Wohnungsnot viele Menschen. Um die Räumung der 250 Hektar großen, besetzten Siedlung »Cerro Centinela« wird aktuell auch vor Gericht gestritten. Mehr als 10 000 Menschen leben dort an der Küste in San Antonio. Häufig mündet Unzufriedenheit heute aber eher in Frust und Verzweiflung, in Wut auf den Staat und die Politik, auch in nationalistischen Tönen, Rufen nach einem radikalen Wandel und einer starken Hand.

Kontrollen der PDI-Polizei gegen Migrant*innen im Bezirk Recoleta
Kontrollen der PDI-Polizei gegen Migrant*innen im Bezirk Recoleta

Davon profitierte vor allem der Populist Franco Parisi vom »Partido de la Gente« (PDG, Partei der Leute), der besonders in den nördlichen Regionen in Grenznähe hohe Resultate erzielte und mit fast 20 Prozent überraschend gut abschnitt. Keines der Meinungsforschungsinstitute hatte ein so starkes Ergebnis von Parisi vorhergesehen.

Der in den USA lebende Ökonom, der seinen Dozentenjob an einer Uni wegen sexueller Übergriffe verlor und jahrelang keine Alimente für seine Kinder zahlte, kandidierte zum dritten Mal in Chile und streicht dafür jeweils Millionen Dollar ein. Denn der chilenische Staat zahlt pro abgegebener Stimme an die jeweiligen Kandidat*innen etwa 1,50 Euro als Ausgleich für mutmaßliche Ausgaben im Wahlkampf.

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Parisi bezeichnet sich als nicht ideologisch, er stehe »für Chile«. Berühmt wurde sein Ausspruch, Chile sei weder rechts noch links, »weder faschistisch noch kommunistisch«. Er scheint die meisten der Stimmen eingesammelt zu haben, die vor allem unter dem Vorzeichen der erneut eingeführten Wahlpflicht – 85 Prozent der chilenischen Bevölkerung haben am 16. November ihre Stimme abgegeben – wenig kalkulierbar waren.

Auch der deutschstämmige José Antonio Kast profitierte von diesen Stimmen. Er ist der Sohn eines Wehrmachtssoldaten und NSDAP-Mitglieds und leugnet dessen Verantwortung im Nationalsozialismus. Seine Familie war in vielerlei Hinsicht mit der chilenischen Diktatur verbunden. Kast steht für eine Rückorientierung auf pinochetistische Positionen und für einen patriarchalen Rollback. Chilenische Frauen sollen mehr Kinder bekommen, Abtreibungen und die gleichgeschlechtliche Ehe sind ihm ein Dorn im Auge. International ist er bestens mit der extremen Rechten vernetzt. Von 2022 bis 2024 stand er dem religiös orientierten Political Network for Values (PNfV) vor. Regelmäßig tritt er als Redner bei Konferenzen der Conservative Political Action Conference (CPAC) oder bei Events der spanischen VOX-Partei auf.

Kast ist Vertreter eines neoliberalen Wirtschaftsmodells, in dem »Solidarität« als Raub am Privateigentum gilt. Heute wirbt er neben Sicherheit und (Anti-)Migration auch für Wirtschaftswachstum und Stabilisierung – zumindest in makroökonomischen Zahlen. Er verspricht, die Steuern für Reiche zu senken und sechs Milliarden US-Dollar Staatsausgaben einzusparen. »Woher werden Sie das Geld nehmen? Aus der Rentenversorgung? Aus der gebührenfreien Bildung für die ärmsten Sektoren? Aus der Gesundheitsversorgung?«, fragt Jara ihn in einer vom Verband der Radios organisierten, im Internet verbreiteten und viel zitierten öffentlichen Debatte der beiden Präsidentschaftskandidaten. Die Antwort bleibt Kast schuldig.

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