Titos List machte den Fluss weltweit zur Legende

Auf der NERETVA aus den bosnisch-herzegowinischen Bergen bis ins »Kroatische Kalifornien« an der Adria

  • Michael Müller
  • Lesedauer: 7 Min.

Gemäß eines weisen Rates soll es ja in der Welt überall schön sein - so man Maß und Muße besitzt, sich die Schönheit wie aus einem Vexierbild zu erschließen. Zu Maß und Muße ist mitunter wohl auch etwas Mühe nötig. Nicht so in Dalmatien, also an der kroatischen Adria. Mühe bereitet in dieser Landschaft eher, nicht schönheitssatt zu werden. Bei so viel Blau und Rau, bei so viel suggestiv Sanftem und extensiv Vitalem. Glücklicherweise ist die Küste immer wieder für einen neuen Kick gut. Einer heißt Neretva-Delta.

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Der legendäre Fluss mäandert hier auf einer Fläche von fast 200 Quadratkilometern. Zum einen entstanden so riesige Schilflandschaften, längst naturgeschützt, aber mit einem Naturparkführer auf die sanfte Tour per Boot zu durchstreifen. Zum anderen parzellieren Tausende künstliche Kanäle ein paradiesisches Landwirtschaftsareal: das »Kroatische Kalifornien«, wie die Einheimischen es ganz gern nennen. »Bei uns wächst alles, außer Bananen und Ananas«, versichert Zlatko Vasic (42), der als Pächter auf sechs Hektar zusammen mit seinem Bruder Gemüse und Obst anbaut und in seiner knappen Freizeit gern Musik macht. Noch greifbar nahe zieht sich rechts und links der Karst des Dinarischen Gebirges hin, das überall seine kargen Rücken in die Höhe reckt. Hier im Delta aber: Feigenplantagen, auf denen zwei Mal im Jahr geerntet wird, Melonenfelder sowie Mandarinen- und Orangenwälder, in denen dieser Tage die Ernte beginnt, Kiwis, Paprika. Dazwischen werden in den Flusskapillaren Forellen, Aale, Frösche gezüchtet.

Tickt das Leben anderenorts an der dalmatinischen Küste im Rhythmus von Meer und Wind, ist es hier von dem reich spendenden, Sicherheit bietenden Fluss geprägt. Griechen hatten im Neretva-Delta deshalb als Handelszentrum das antike Narona gegründet. Wie überall am Mittelmeer übernahmen es später die Römer; Julius Cäsar soll hier gewesen sein. Nach der Christianisierung wurde Narona sogar Bischofssitz. Der schwindende zentrale Einfluss Konstantinopels lockte dann Piraten und Sklavenhändler an, bis die Venezianer ihnen das Geschäft gewaltsam abnahmen.

Aus grauer Vorzeit künden nur noch kleine Fundstellen sowie das 2007 eröffnete Archäologische Museum von Vid. Und der alljährlich Anfang August stattfindende Lada-Marathon. Dabei geht es weder um die gleichnamige Automarke noch um einen Lauf. Bei einer Lada (gesprochen: Ladschia) handelt es sich um ein archaisches, muskelbetriebenes flaches Flussboot, das auch heute noch, allerdings meist leicht motorisiert, in Gebrauch ist. Einem Spreewaldkahn nicht unähnlich, wird die Lada jedoch nicht gemütlich gestakt, sondern von einer Zehnermannschaft gestechpaddelt. Der Lada-Marathon misst die Neretva fast 25 Kilometer flussauf, also landeinwärts, von ihrer Mündung bei Ploce bis nach Metkovic, der Grenzstadt zu Bosnien-Herzegowina. Diesmal waren 32 Boote dabei. Die besten brauchten wieder fast einen halben Tag. Drumherum war für Zehntausende am Ufer ein ganzes Wochenende Volksfest.

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Als wir in Metkovic dazu stießen, waren wir dem Ereignis von der anderen Seite kommend rund 80 Kilometer entgegengefahren. Nämlich vom bosnischen Städtchen Konjic aus flussabwärts auf und entlang der Neretva. Zu viert, mit einem Auto und zwei Kanus, so dass sich die Zweierbesatzungen von Straße zu Fluss abwechseln konnten. Die Tour ließe sich mit weniger Gepäck wohl auch ganz gut per Zug machen, nämlich auf der tunnelreichen Strecke, die von Sarajevo bis nach Ploce führt.

Bis Konjic hat die Neretva, aus dem weiter östlich liegenden Zelengora, dem Grünen Gebirge, kommend schon rund die Hälfte ihrer Strecke zur Adria zurückgelegt. Auf einer kaum gebändigten Hochgebirgstour. Nun fließt sie zwischen Konjic und Jablanica durch den fast 20 Kilometer langen Jablanica-See. Ein herrliches Fleckchen zum durchatmen, das sich dann aber bald nach Jablanica (wo man, was in ganz Bosnien sprichwörtlich ist, das beste Lamm essen kann) erneut zum märchenhaften Gebirgsfluss verengt. Linker Hand eine Kette von Zweitausendern des sich flussabwärts bis vor Mostar hinziehenden Prenj-Gebirges, rechter Hand ähnliche Gipfelspitzen der Cvrsnica- und Cabuljaketten. Das direkt am Fluss oft Hunderte Meter aufragende schroffe Gestein lässt das Weltbild der Reisenden tief unten auf das einer Ameise zusammenschrumpfen. Beklemmend dies, dafür später, wenn wieder Licht wird, geradezu befreiend.

Doch zuvor bei Jablanica erst einmal ein ultimativer Stop. Hier hängt vom linken Ufer aus eine zerborstene Eisenbahnbrücke in den Fluss hinunter. Sie gibt gleichsam Kunde von einer Kriegslist des Partisanenführers Josip Broz Tito. Der Husarenstreich und der Fluss selbst wurden später vor allem durch den Oskar-nominierten Film »Die Schlacht an der Neretva« (1968; u. a. mit Sergej Bondartschuk, Sylva Koscina, Yul Brunner, Curd Jürgens) auch weltweit zur Legende. Und Tito regierte später bis zu seinem Tode 1980 als Präsident die Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien und war einer der Väter und Aktivisten der Bewegung der Nichtpaktgebunden Staaten.

Im Februar 1943 hatte er die »Bandenjagd«-Divisionen der verbündeten deutschen, italienischen und kroatischen Faschisten durch die Sprengung über seinen Rückzug getäuscht. Die Partisanen konnten indes über eine nächtens schnell errichtete Notbrücke nicht nur viele Verwundete retten, sondern auch Verbände der königstreuen serbischen Cetniks vernichtend angreifen. Und sich weiter nach Osten in die montenegrinischen Berge zurückziehen, um von hier letztlich die 18-monatige strategische Offensive zur Befreiung Jugoslawiens zu starten.

All das kann man sich in dem weitläufigen Museumsgelände sowie im Museum gut vergegenwärtigen. Und dabei vielleicht angeregt werden, auch darüber nachzudenken, warum Titos »Dritter Weg« zwar im Kalten Krieg funktionierte, nicht aber den Zusammenbruch des Warschauer Pakts überdauerte (zu dem Jugoslawien bekanntlich gar nicht gehörte). Oder, wie und von wem die SFRJ nach 1990 in einen südslawischen Bruderkrieg gedrängt und gerissen wurde. Der Sieg der kommunistischen Titopartisanen an der Neretva ist jedenfalls auch eine der Rechnungen gewesen, die für die einstigen Verlierer immer offen geblieben war.

Weiter geht es stromab nach Mostar. Ebenso ein Ort offener Rechnungen, einstiger und gegenwärtiger. Auch heute, 17 Jahre nach Ende des Bosnienkrieges, bleibt die Stadt streng geteilt: das rechte Ufer kroatisch-christlich, das linke muslimisch-bosnisch. Allein beiderseits der berühmten Stari Most, der Alten Brücke, überdeckt der florierende Tourismus zumindest während seiner Geschäfts- und Öffnungszeiten alle Ressentiments. Im Kanu auf dem Fluss gilt es indes aufzupassen, dass man sich nicht gerade dann durch die Brücke gleiten lässt, wenn von oben ein Springer im Anflug ist. So ab 20 Konvertierbare Mark (so die bosnische Währung, die immer noch im festen DM-Verhältnis 1:2 zum Euro steht) hechten hier Jungs für Touristenfotos genau 21 Meter runter in die Neretva.

Hinter Mostar werden die Ufer flacher, die Grenze zu Kroatien rückt näher. Vorher machen wir aber noch in Capljina fest, für zwei sozusagen religiöse Abstecher. Links, also östlich, sind vor der Ortschaft Stolac die Grabsteine (Stecci) eines Bogomilenfriedhofes zu bestaunen. Das Bogomilentum, eine von Rom wie von Konstantinopel einst gleichermaßen verketzerte und bis heute weitgehend totgeschwiegene Bibelauslegung, war im mittelalterlichen Bosnien rund 300 (!) Jahre lang Staatsreligion. Und rechts, nordwestlich von Capljina, kommt man nach Medugorje. Das ist seit der dortigen Marienerscheinung von 1981 ein katholischer Wallfahrtsort. Gut 4000 Einwohner, fast 20 000 Gästebetten, über eine Million Übernachtungen pro Jahr. Härter und profitabler geht es im Tourismus kaum irgendwo zu. Diese frühkapitalistisch geprägte Wallfahrt im wilden Osten sollte man sich nicht entgehen lassen; Lourdes in Frankreich nimmt sich dagegen aus wie der Ausflug eines Mädchenpensionats.

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Der Grenzübertritt von Bosnien-Herzegowina nach Kroatien ist zu Land wie zu Wasser problemlos. Indes gibt es - ein Rückfall in die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg - jetzt überall an den Staatsgrenzen innerhalb des einstigen Jugoslawiens einen neuerlichen Stempel in den Pass. Auf kroatischer Seite, also in Metkovic, kommen wir nun direkt ins Volksfest am Ziel des Lada-Marathons - und lernen dort besagten Obst- und Gemüselandwirt Zlatko Vasic kennen - wie er nämlich auf einer der vielen Bühnen als Freizeit-Akkordeonist zusammen mit einem Gitarristenkumpel dalmatinische Folklore spielt und singt. Allerdings adaptieren die beiden auch ganz gern alten Jugo-Pop oder grooven den neuen Trans-Balkan-Highway entlang. Ein Titel besingt sogar die Berliner U-Bahnlinie U 8 von Wittenau nach Neukölln (an der ja bekanntlich nicht wenige Ex-Jugoslawen leben). Und schon kommt bei uns mitten im sonnen- wie meersatten »Kroatischen Kalifornien« ein ganz klein bisschen Heimweh auf. Warum eigentlich auch nicht. Kann man sich doch, weisen Rates gemäß, sicher auch zu Hause das Schöne wie aus einem Vexierbild erschließen. Das richtige Maß und die nötige Muße natürlich vorausgesetzt.

  • Tourismusvereinigung Bosnien-Herzegowina, www.bhtourism.ba
  • Kroatische Zentrale für Tourismus, www.croatia.hr
  • nd-Leserreisen, Dr. Irene Kohlmetz/ Frank Diekert, Franz-Mehring-Platz 1, 10243 Berlin, Tel: (030) 29 78 - 1620, - 1621, Fax: - 1650, leserreisen@nd-online.de, www.nd-aktuell.de/leserreisen
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