Der Elbeschwimmer
Heute vor 15 Jahren wurde die letzte DDR-Volkskammer gewählt. Einer der vielen neuen Abgeordneten war der Umweltschützer Ernst Paul Dörfler. Für ihn blieb die große Politik eine Episode. Heute ärgert er lieber Politiker.
»Kommen Sie nach Brambach, in die "Elbterassen"«, sagt er, als wir uns zum Gespräch verabreden. »Dort wird es Ihnen gut gehen.« Wir treffen uns in dem Ausflugsrestaurant in der Nähe von Dessau. Vor fast drei Jahren, beim verheerenden Hochwasser, waren die Gästezimmer in der unteren Etage überflutet. Ein paar Kilometer flussabwärts wohnt Dörfler in einem kleinen Ort. Sein Haus steht nicht weit vom Wasser entfernt, aber hoch genug, um vor Fluten sicher zu sein. »Da«, sagt Ernst Paul Dörfler, »habe ich schon vor 20 Jahren aufgepasst.«
Dörfler ist Flussexperte. Er mag es nicht besonders, wenn ihn die Zeitungen so nennen. Aber er ist es ja wirklich, trotz seiner freundlichen Tiefstapelei. Er schreibt Bücher für Kinder und Erwachsene, Zeitungsartikel und heimatkundliche Geschichten, er reist, hält Vorträge, experimentiert mit Schulklassen, führt durch die Natur und arbeitet mit dem Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) zusammen. Bei fast allem, was er tut, ist irgendwie die Elbe im Spiel. Als Dörfler 1990 für die Volkskammer kandidierte, war eins klar: Es durfte kein Abschied von seiner Heimat sein.
Plötzlich saßen neue Leute im Fernsehen
Da hatte er unter Insidern schon einen Namen. Die Öffentlichkeit konnte ja kaum wissen, dass Dörfler sich schon seit Jahr und Tag mit der ökologischen Situation in der DDR befasste. Studien, an denen er mitarbeitete, behielt man unter Verschluss, Artikel blieben in den Redaktionen liegen. Dörfler, der nach seiner Assistentenzeit die Hochschule verließ, weil ihm zu viel Labor, zu wenig Natur dabei war, der nach ein paar Jahren auch beim Institut für Gewässerschutz ausstieg, weil seine Arbeit weitgehend wirkungslos blieb, machte sich selbstständig. Seit 1983 firmiert er als freier Schriftsteller und Ökologe. Eine für DDR-Verhältnisse etwas wunderliche Existenz.
»Naja«, sagt er, »geschrieben habe ich schon immer gern.« Zum Beispiel eine kleine Satire über die Elbe und ihren Zustand fürs Brigadetagebuch. Wiedergefunden hat er den Text später in seiner Stasiakte. An die 40 Leute waren über die Jahre damit beschäftigt, über ihn zu berichten. Dabei wollte er »keine Konfrontation um jeden Preis. Ich wollte nicht in den Westen, ich wollte nicht den Sozialismus verteufeln und auch nicht Honecker stürzen«, sagt er grinsend. »Ich wollte nur mehr Wahrhaftigkeit in der Darstellung der Lebensumstände.«
Dörfler tauchte in Seen, beobachtete die Natur, fotografierte, protokollierte und machte Sanierungsvorschläge. Das bezahlte zwar niemand, aber immerhin begann man eines Tages, den Schlamm aus einem See herauszuholen, in den jahrelang die Jauche aus der Schweinezucht geflossen war. Wo man etwas für die Umwelt tun konnte, tat er es, ob bei der Kirche oder im Kulturbund.
Den Sprung in die sozialistische Selbstständigkeit konnte er nur versuchen, weil ihm der Leipziger Urania Verlag dann doch ein Projekt angeboten hat. »Zurück zur Natur?« hieß das Buch, das er gemeinsam mit seiner Frau Marianne schrieb und das ein kleiner Renner wurde. Die Nachfrage war jedenfalls größer als das zugeteilte Papierkontingent. Gleichzeitig sollte es in einem westdeutschen Verlag erscheinen, so war die Finanzierung gesichert. Deshalb schauten Verlagsleitung, Kultur- und Umweltministerium auch ganz genau hin. »Die Herausforderung bestand darin, bestimmte Reizworte wegzulassen, an denen jemand hängen bleiben konnte«, erinnert sich Dörfler. Täuschung der Zensoren nennt er das. So war dann eben nicht vom Waldsterben die Rede, sondern von Bäumen in Rauch und Regen.
Im November 1989 fuhr Dörfler nach Berlin, zur Gründung der Grünen Partei der DDR. Er kannte den Termin und den Treffpunkt in irgend einer Kirche. Von den Teilnehmern kannte er niemanden. Woher auch. Die Westgrünen hatte er wenigstens schon mal im Westfernsehen gesehen. Immerhin, es war etwas in Bewegung gekommen, »ich befand mich in höchster Euphorie und habe eine Zeit lang kaum geschlafen«. Dörfler schrieb mit am Programmentwurf der Ost-Grünen, denn »ich hatte ja Erfahrungen und Wissen angesammelt und auch Lösungsangebote dafür, wie man die Wirtschaft und die Gesellschaft überhaupt ökologisieren kann. Heute nennt man das Nachhaltigkeit.« Es war endlich eine Gelegenheit, sagt er heute, etwas zu verändern. Plötzlich saß er in diesen neuen Fernseh-Talkshows, die damals noch nicht so hießen und in denen neue Leute neue Antworten gaben.
Er verhandelte für die Grünen am Runden Tisch und in die Volkskammer ging er unter zwei Bedingungen. Erstens: Ich werde kein Berufspolitiker. Und zweitens: Ich wechsele meinen Wohnort nicht. Was auf ihn zukommen sollte, konnte er nicht ahnen. Sein Abgeordnetendasein wurde schnell ein Tag-und-Nacht-Job. Von der Euphorie blieb nichts übrig. Er wollte den Osten nicht so haben wie den Westen - diese riesige Verschwendung von Ressourcen zum Beispiel. Aber Umweltfragen, das merkte er schnell, spielten in den Kämpfen um die deutsche Einheit fast keine Rolle. Und über den Umweltausschuss, den Dörfler leitete, kann er heute nur noch lachen. »Die Volkskammer konnte den Gang der Dinge kaum beeinflussen. Wir wollten eigene Gesetze machen, aber es lief alles darauf hinaus, das Westsystem zu übernehmen.«
Zehn Jahre hart gekämpft
Eines Abends im Sommer 1990, als in der Volkskammer verbissen und endlos über die Einheit gestritten wurde, packte Dörfler weit nach Mitternacht seine Sachen und ging vor der Abstimmung. »Es drehte sich doch nur noch um den Termin.« Dörfler saß dann noch vom 3. Oktober 1990, als es schon keine Volkskammer mehr gab, bis zur gesamtdeutschen Wahl Anfang Dezember gemeinsam mit etlichen anderen Volkskammervertretern übergangsweise im Bundestag. Dort hat er endgültig gemerkt, was politischer Machtkampf ist: »Es geht darum, den anderen zu bekämpfen, zu treffen, ihn öffentlich möglichst tief zu verletzen.« Ohnehin trat er nicht bei der Bundestagswahl an, das war für ihn längst klar gewesen. 2002 hat er dann doch noch einmal für den Bundestag kandidiert, auf Platz zwei der Landesliste der Bündnisgrünen in Sachsen-Anhalt. Um seiner Partei zu helfen. Aber er hat sich »vorher ausrechnen lassen, dass der zweite Listenplatz nie für ein Mandat reichen würde«.
Heute ärgert er lieber Politiker, beispielsweise Manfred Stolpe, der als Bundesverkehrsminister für die Flüsse zuständig ist. Die sollen enger werden und damit tiefer, damit zu jeder Jahreszeit große Schiffe mit erheblichem Tiefgang durchkommen. Die Politiker nennen das dann Wasserstraße. Ganz nebenbei werden die Flüsse auch schneller, was bei Hochwasser verheerende Folgen hat. »Aber ein Fluss ist ein Fluss und keine Wasserstraße«, beharrt Dörfler. Jeden Politiker, den sie kriegen konnten, »haben wir ins Schlauchboot gesetzt und ihm den Unterschied gezeigt«.
Offiziell wurde der Elbeausbau nach der Flut vom Sommer 2002 gestoppt. Zehn Jahre hatten die Umweltschützer vorher dagegen gekämpft. Schließlich stand es im rot-grünen Koalitionsvertrag: »Die Ausbaumaßnahmen und in ihren Auswirkungen vergleichbare Unterhaltungsmaßnahmen auf der Elbe werden nicht umgesetzt.«
Warum auf die Kanaren?
Lange wurde darüber gestritten, den Flüssen ihre Überflutungsflächen zurückzugeben. Stattdessen zieht man lieber die Deiche höher. Und unter dem Deckmantel Unterhaltung und Betrieb »wird trotzdem weiter ausgebaut«, ärgert sich Dörfler. Die BUND-Leute haben es nachgemessen: Neue steinerne Uferbefestigungen weichen von den Planungen ab, sie engen den Fluss stärker ein als zulässig. 22 Verbände, dabei auch der BUND, haben sich darüber bei der EU beschwert. Dörflers Slogan »Die Elbe darf nicht gesteinigt werden« sorgte für allerhand behördliche Verärgerung; wer so etwas sagt, steht schnell als Verhinderer des Fortschritts am Pranger. »Das erinnert mich schon an DDR-Zeiten.«
Ernst Paul Dörfler gründete Bürgerinitiativen entlang der Elbe. Und er hat ein Buch über seinen Fluss geschrieben. Ach was, kein Buch, eine Liebeserklärung. »Wunder der Elbe« heißt der Bildband, für den er einen nach Erwin Strittmatter benannten Umwelt-Literaturpreis erhielt. »Die Elbe«, sagt er, »ist der letzte große Fluss in Deutschland, der diese Bezeichnung verdient.« Westbesucher erzählen ihm öfter: »Solche Flüsse hatten wir früher auch.« Dörfler kennt sie, »die langweiligen, eingezwängten, uniformierten Flüsse im Westen«. Er hat sie sich angesehen, nach der Wende. Das war seine Reisefreiheit. »Wenn man einen Fluss und die Landschaft erst ruinieren muss, damit ein paar Schiffe mehr darauf fahren können, dann stimmt was nicht«, sagt er. Im Westen seien die Flüsse auf Teufel komm raus kanalisiert worden, aber die versprochene Verlagerung des Güterverkehrs von der Schiene auf das Wasser sei trotzdem nicht gekommen. »Das ist und bleibt zu aufwändig.«
Wenn das Wetter es zulässt, badet Dörfler in der Elbe. Seit ein paar Jahren geht das wieder. Inzwischen leben 40 Fischarten im Fluss. »Diese Strömung, die Sandbänke« - Dörfler schwärmt schon wieder. Die Elbe-Sandbänke findet er genau so sehenswert wie die Vulkansandstrände auf den Kanaren. Sicher müsse die Wasserqualität noch besser werden, »aber je mehr Menschen in der Elbe baden, desto größer wird der Druck«. Flussschwimmen als Polithappening. Und als Droge. »Wer einmal rüber und wieder zurück geschwommen ist«, sagt Dörfler, »macht das immer wieder.«
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