Die wahre Schranke des Kapitals

Zur Dauerkrise der Arbeitsgesellschaft

  • Detlef Kannapin
  • Lesedauer: 7 Min.
Zeichnung: Harald Kretzschmar
Zeichnung: Harald Kretzschmar

Es gibt im dritten Band des »Kapital« (MEW 25, S. 260) einige Sätze, die seit Kautskys Zeiten Kopfschmerzen bereitet haben. Diese Sätze lauten: »Die kapitalistische Produktion strebt beständig, diese ihr immanenten Schranken zu überwinden, aber sie überwindet sie nur durch Mittel, die ihr diese Schranken aufs neue und auf gewaltigerm Maßstab entgegenstellen. Die wahre Schranke der kapitalistischen Produktion ist das Kapital selbst, ist dies: daß das Kapital und seine Selbstverwertung als Ausgangspunkt und Endpunkt, als Motiv und Zweck der Produktion erscheint; daß die Produktion nur Produktion für das Kapital ist und nicht umgekehrt die Produktionsmittel bloße Mittel für eine stets sich erweiternde Gestaltung des Lebensprozesses für die Gesellschaft der Produzenten sind.«

Die Kopfschmerzen resultieren weniger aus der Sachlage heraus, dass kapitalistische Produktion lediglich Produktion um der Produktion willen ist, sondern aus den Konsequenzen einer Verkümmerung der Gestaltung des Lebensprozesses für die Gesellschaft der Produzenten, also der Arbeitenden selbst. Es entstehen aus diesem Verhältnis drei langfristige Effekte, die rein ökonomisch nicht aufzulösen sind: Erstens wird das Proletariat zum Anhängsel des Kapitals und nicht von sich aus zu dessen Antipoden. Zweitens wird das Proletariat durch den Tausch lebendiger Arbeitskraft gegen Sachen zur von vornherein betrogenen Klasse. Drittens schließlich unterminiert das Kapital in der Anhäufung stofflichen Reichtums beständig seine eigene Verwertungsgrundlage, da der Einsatz lebendiger Arbeitskraft inzwischen durch fortwährende Rationalisierung immer weniger benötigt wird. Die Folge davon ist, dass der Kapitalismus sein einziges profitables Fundament außerökonomisch reproduzieren muss: die unbezahlte Mehrarbeit.

Eine Überwindung des kapitalistischen Produktionszusammenhangs ist innerhalb der wirtschaftlichen Rechnungsführung nicht möglich. Insofern sind alle Maßnahmen zur Erhaltung und Verbesserung kapitalistischer Normalarbeitsverhältnisse in alimentierender, sozialstaatlicher oder gewerkschaftlicher Form keine Schritte zur Überwindung des Systems. Sie sind zwar in jedem Fall besser als sämtliche Arten von Manchesterrealismus und IT-Selbstausbeutung, aber sie sind eben keine systemsprengenden Projekte. Dadurch, dass das Kapital zunehmend selber dazu gezwungen ist, seinen Profit politisch aufrechtzuerhalten, wird die Überwindung von Proletariat und Prekariat als Anhängsel des Kapitals, als betrogener Klasse und als Spielball unproduktiver Tätigkeit nur durch wirkliche politische Interventionen möglich sein.

Gegenwärtig ist die Erosion der kapitalistischen Arbeitsformen mit Händen zu greifen, so dass das starre bis starrsinnige Festhalten an überkommenen und früher vielleicht funktionalen Wirtschaftskonzepten der Suche nach vernünftigen Alternativen eher im Wege steht. Die Attacken Lenins gegen das trade-unionistische Bewusstsein waren schon zu dessen Lebzeiten wohlbegründet, während sie heute im Sinne einer tatsächlich emanzipatorischen Politik zum Allgemeingut gehören müssten. Dass sie dies nicht tun, ist Element der Agonie des befriedeten Klassenkampfs von unten und der Selbstsicherheit des radikalisierten Klassenkampfs von oben.

Der Wandel der Arbeitswelt ist zum Teil so gravierend, dass vormalige Normalarbeitsverhältnisse zur Ausnahme geworden sind oder eben politisch abgesichert werden. Wie die in Großbritannien lehrenden Soziologen Carl Cederström und Peter Fleming in ihrem Buch »Dead Man Working« beschreiben, geht es dem Kapitalismus mittlerweile darum, Managementfunktionen, die vor nicht allzu langer Zeit noch auf den Abteilungsleiteretagen verblieben, in den Arbeitsprozess selbst zu verschieben. Das bedeutet dann, dass die Lohnabhängigen neben der zu leistenden Arbeit auch noch die Arbeitsorganisation zu verrichten haben. Für die Autoren ist das ein unleugbares Indiz dafür, dass sich der Kapitalismus nicht mehr von allein oder aus sich selbst heraus organisieren kann, um die erforderliche Profitrate zu generieren.

Als Folge davon greift die kapitalisierte Arbeit in alle Lebensbereiche ein. Sie löst die Grenzen zwischen Arbeit und Freizeit, Akkord und Erholung, Öffentlich und Privat sowie Dienst und Schnaps auf. Der Trend geht in Richtung »Karoshi für alle« (Markus Metz/Georg Seeßlen), und er kann alle und jeden zu jeder Zeit treffen. Um daraus keine Massenbewegung werden zu lassen, verfügt eine neue Unternehmenskultur über Mechanismen vorgegaukelter Sozialverträglichkeit.

Cederström und Fleming konstatieren: »Der ideologische Coup hat zwei Ziele. Das erste ist der Anschein einer humanisierten Form der Arbeit (›freundlicher Kapitalismus‹). Das zweite ist die Verlagerung der Aufmerksamkeit auf die subjektiven Missstände am Arbeitsplatz, was vom wirklichen Feind ablenkt: der konkreten, objektiven Vorherrschaft von Ausbeutung und Regulation. Wie schon der Liberalismus ist auch diese Ideologie fähig, ein Bild der Fürsorglichkeit zu beschwören, während sie sich weiterhin auf pure Gewalt und Zwang stützt.« Als einziger Ausweg erscheint beiden die strikte und unmissverständliche Trennung aller sozialen Beziehungen von der Logik der Arbeit, womit jedoch letztlich die eigentlich entscheidende Frage unbeantwortet bleibt, welche Form der Arbeit bzw. Tätigkeit nicht in sozialen Beziehungen aufgehen darf.

Die Unterminierung der lebendigen Arbeitskraft durch das Kapital war auch zeitlebens das beherrschende Thema für den Publizisten Robert Kurz, der im Sommer 2012 an den Folgen eines Operationsfehlers starb. Nach Kurz sind aufgrund dieser inneren Schranke des Kapitals im Prinzip nur zwei gesellschaftliche Konstellationen denkbar: entweder eine dauerhafte Krise der kapitalistischen Arbeit bis zum ökonomischen Zusammenbruch des Kapitalismus oder die Abschaffung des warenproduzierenden Systems. Dieser Dualismus durchzieht seine sämtlichen Publikationen der letzten zwanzig Jahre. Eine Auswahl kürzerer Aufsätze unter dem Titel »Weltkrise und Ignoranz. Kapitalismus im Niedergang« verschafft jetzt einen Überblick über seine Ansichten, wobei zwei Schlüsseltexte, einer zur Methodik (»Die dritte Kraft« von 1993) und einer zur Ideologie (»Kulturindustrie im 21. Jahrhundert« von 2012), darin leider fehlen.

Kurz definiert die immanenten Grenzen des Kapitalismus folgendermaßen: »Die innere ökonomische Schranke besteht darin, dass die Produktivkraftentwicklung zu einem Punkt führt, an dem die ›abstrakte Arbeit‹ als ›Substanz‹ des ›Mehrwerts‹ in so großem Umfang aus dem Produktionsprozess wegrationalisiert wird, dass keine weitere reale Verwertung möglich ist. Diese ›Entsubstantialisierung des Kapitals‹ oder ›Entwertung des Werts‹ bedeutet, dass die Produkte an sich keine Waren mehr sind, die sich in der Geldform als allgemeiner Wertform darstellen können, sondern nur noch Gebrauchsgegenstände. Der Zweck der kapitalistischen Produktion ist aber nicht die Herstellung von Gebrauchsgütern für die Befriedigung von Bedürfnissen, sondern der Selbstzweck der Verwertung. Deshalb muss nach kapitalistischen Kriterien beim Erreichen der inneren ökonomischen Schranke die Produktion und damit der gesellschaftliche Lebensprozess stillgelegt werden, obwohl alle Mittel vorhanden sind.«

In dieser Definition offenbaren sich die Trugschlüsse der innerökonomischen Argumentation. Vom richtigen Ausgangspunkt ausgehend, dass die permanente Rationalisierung die lebendige Arbeit untergräbt und zu Widersprüchen führt, wird einfach geschlossen, dass der Warenkreislauf zum Erliegen kommt und das kapitalistische Ende in den Zusammenbruch mündet. Kurz, sonst stets sehr hellsichtig in seiner Kritik des vollständig ideologisierten Zeitgeistes, kommt überhaupt nicht auf die Idee, dass der Kapitalismus ein Meister in der Herauszögerung seines Ablebens ist, sofern ihm zur Aufrechterhaltung seiner Ordnung politische Lösungsmuster einfallen, die dann auch umgesetzt werden. So sind zum Beispiel die immanenten Grenzen des Kapitalismus in Gestalt der Arbeitsbeziehungen genau dadurch erweitert worden, dass sich in den hochentwickelten Industrieländern große Mengen lebendiger Arbeit in unproduktiven Tätigkeitsbereichen wiederfinden und das Entgelt dafür politischer Natur ist, während im Rest der Welt Industriearbeit und Proletarisierung exorbitant zunehmen.

Für Robert Kurz war die Zusammenbruchthese, die er freilich als radikale Krisentheorie gewertet wissen wollte, eine sichtbar komfortable Position: Entweder der Zusammenbruch tritt ein, dann hatte Kurz recht und es schon immer gesagt. Oder der Zusammenbruch tritt nicht ein, dann kann aber das theoretische Gerüst richtig sein, und das fatale Ende ist nur herausgeschoben. Zumal für ihn als emanzipatorischer Akt dann auch nur eine Gesellschaft jenseits von Markt und Staat als sozial angemessener Gesellschaftsordnung aufscheint. Peter Hacks meinte ironisch, dass eine solche Weder-Kapitalismus-noch-Sozialismus-Diagnose den fehlenden 300 Jahren (von 500 bis 800 u. Z.) mit ihrer Weder-Sklaverei-noch-Lehnswesen-Beschaffenheit gleiche.

Der ganze Komplex der Dauerkrise von Arbeit und Arbeitsgesellschaft lässt sich nicht durch Fluchtlinienmythologie oder theoretische Dogmenbildung wegdelegieren. Wenn der Kapitalismus das Problem ist, wofür nahezu alle Daten der Gegenwart sprechen, dann ist seine Ablösung angezeigt. Die kann nur politisch erfolgen. Ohne dass man ihn tritt, geht er nicht weg. Und ökonomisch ist für ihn noch Einiges drin. Bedauerlicherweise.

Literaturhinweise:

Carl Cederström/Peter Fleming: Dead Man Working. Die schöne neue Welt der toten Arbeit, edition tiamat Berlin 2013, 144 S., brosch., 13 €.

Robert Kurz: Weltkrise und Ignoranz. Kapitalismus im Niedergang. Ausgewählte Schriften, edition tiamat Berlin 2013, 240 S., brosch., 16 €.

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