Mäzen gesucht

Warum Barbara Gstaltmayr den Garten der jüdischen Familie Barasch in Berlin-Grunewald erhalten will

  • Christina Matte
  • Lesedauer: 8 Min.

Als Barbara Gstaltmayr vor zehn Jahren eine Mietwohnung im Gartenhaus der Wissmannstraße 11 bezog, dachte sie nur eines: schön hier. Beste Berliner Wohnlage in Grunewald, viel Ruhe, viel Grün. Über die Geschichte der klinkerroten Villa an der Straße, des kleinen Gartenhauses dahinter und des 1500 Quadratmeter großen Gartens wusste sie nichts. Davon erfuhr sie erst nach und nach. Als die damalige Besitzerin verarmt in ein Altenheim ziehen musste und deren Betreuer ankündigte, Villa und Gartenhaus zu verkaufen, begannen sie und ihre Nachbarn zu recherchieren, ob es noch rechtmäßige Erben des ehemaligen Besitzers gab. So tauchte, mehr als sechs Jahrzehnte nach seiner Ermordung im Konzentrationslager Sachsenhausen, Artur Barasch in der Wissmannstraße auf. Vielmehr: Er kehrte zurück.

Wer war der Mann, der zurückkehrte? Artur Barasch war ein 1872 geborener jüdischer Kaufmann, Freimaurer und Kunstmäzen, der mit seinem Bruder Georg die Warenhauskette »Gebrüder Barasch« mit Häusern unter anderem in Gleiwitz, Kattowitz, Breslau, Magdeburg, Braunschweig und Königsberg aufgebaut hatte. Weil er im Ersten Weltkrieg sein Vaterland verteidigt hatte, war er für »Tapferkeit vor dem Feinde« mit dem Eisernen Kreuz dekoriert worden. 1921 dann war er mit Ehefrau Irene Haas-Barasch sowie den Kindern Else und Werner aus Breslau nach Berlin gezogen, wo er das Grundstück Wissmannstraße 11 erworben hatte. Während es ihm nach der Machtübernahme der Nazis gelungen war, Frau und Kinder ins Ausland zu schicken, sah er für sich keine Gefahr. Ein Irrtum. 1942 war sein Vermögen beschlagnahmt und er selbst nach Sachsenhausen verbracht worden, wo er sein Leben beendete, indem er sich in den elektrischen Zaun warf.

Dieser Artur Barasch also tauchte wieder in der Wissmannstraße auf. Bei dieser Gelegenheit lernte Barbara Gstaltmayr, wenn man das so sagen darf, ihn und seinen Sohn Werner kennen. Von Werner Barasch war nämlich im Jahr 2001 im Verlag Haag + Herchen ein Buch erschienen, das mit Erinnerungen an seine Kindheit beginnt, an sein Elternhaus »in einem vornehmen Vorort der Hauptstadt, umgeben von einem riesengroßen Nadelwald, … gegenüber von einem schönen See (Hertha-See) gelegen«: »Wir hatten 24 Zimmer. Darunter war ein riesiger Salon mit einem Bechstein-Flügel, auf dem meine Schwester und ich durch tägliches Üben und wöchentliche Stunden zu lebenslangen Amateurmusikern gemacht wurden. Da war ein Herrenzimmer mit Ledermöbeln und getäfelten Holzwänden, ein Biedermeierzimmer mit Meißner Porzellan und handbemalter Decke, fünf Badezimmer, Wohnungen für Portier, Gärtner und Angestellte, ein Wäscheraum, ein Heizungsraum im Parterre und auf der Gegenseite eines Hofes ein Gebäude mit Garage, Platz für mein Fahrrad, Kuhstall und Werkstätte, dann ein großer Garten mit Liegewiese, Blumen- und Gemüsegarten.«

Schrecklich, was Artur und Werner Barasch später erleiden mussten. In seiner autobiografischen Skizze »Entronnen« reflektiert Werner Barasch die Odyssee eines deutschen jüdischen Jungen durch das Europa des Zweiten Weltkrieges. Als die Nazis Italien überrannten, wo er sein Abitur gemacht hatte, musste er in die Schweiz fliehen, die ihm aber keine Zuflucht gewährte. In Paris wurde er ebenfalls als Jude und Feind verfolgt. Er wurde interniert, riss aus, fand sich erneut in einem Konzentrationslager wieder, lernte in Spanien das grausame Gefängnissystem unter Franco kennen. Erst nach sieben Jahren, 1946, durfte er ausreisen - in die USA.

Dort machte ihn die rührige kleine Gartenhausgemeinschaft fast sieben Jahrzehnte danach tatsächlich ausfindig. Von ihm erfuhr sie, dass das Grundstück Wissmannstraße 11 samt Garten, Villa und Gartenhaus nach der Deportation seines Vaters für 46 000 Reichsmark an dessen früheren Hausverwalter, einen den Nazis verbundenen Herrn Großmann, verkauft worden war - weit unter Wert. Als Lebensgefährtin von Großmanns Sohn war die damals noch aktuelle Eigentümerin in den Besitz der Immobilie gelangt. Da die bundesdeutsche Regierung Werner Barasch nach dem Krieg mit 5000 D-Mark abgefunden hatte, war sein Anspruch erloschen. Als gerecht konnte die Mietergemeinschaft das nicht empfinden.

Barbara Gstaltmayr sagt: »Die Villa, das Gartenhaus, der Garten - wenn man weiß, was geschehen ist, bekommen sie plötzlich eine ganz andere Geschichte. Sie berührt mich.« Obwohl Barbara Gstaltmayr das Glück hatte, erst nach dem Zweiten Weltkrieg geboren worden zu sein, hat dieser Krieg sie schon immer berührt. Ganz direkt, ganz persönlich. Aufgewachsen ist sie im Haus ihrer Großmutter Anna in Lindau am Bodensee. Einen Großvater gab es dort nicht. Den hatte man noch sechs Wochen vor Kriegsende an die Front geschickt, drei Wochen später war er an Lungenentzündung gestorben. Nach dem Krieg hatte die Großmutter in ihrem Haus zwei Jüdinnen, ehemalige Häftlinge in Auschwitz, aufgenommen. »Die Frauen lebten oben im Haus, im Dunkeln. Alle Fenster und Türen hatten sie mit Matratzen zugenagelt, aus Angst vor Gas. Raus gingen sie nie, einmal im Monat bestellten sie Lebensmittel. 1966 wurden sie in die Psychiatrie Kaufbeuren gebracht. Ich sehe und höre das immer noch: Wie man sie, auf Tragen festgeschnallt, die Treppe nach unten trug, wie sie schrien, weil sie glaubten, deportiert zu werden.«

Hat Artur Barasch geschrien, als man ihn zum nahe gelegenen Gleis 17 führte? Barbara Gstaltmayr hat versucht, seinen möglichen letzten Weg zum Gleis 17 nachzuvollziehen. Mit dem Fotoapparat ist sie die Strecke abgelaufen. Die weißen Villen, die geschlossenen Fenster, das Schweigen. Damals. Seit Artur Barasch in die Wissmannstraße zurückgekehrt ist, schweigen die Nachbarn nicht mehr. Jedenfalls nicht alle. Christina Härtel, Wolfgang Möller und Karin Fromm, wie Barbara Gstaltmayr Mieter im Gartenhaus, haben maßgeblich dafür gesorgt, dass im Jahr 2008 in einer kleinen Gedächtnisfeier auf der Straße vor dem ehemaligen Wohnhaus der Baraschs ein Stolperstein des Künstlers Gunter Demnig verlegt wurde. Hätte sich Gstaltmayr zu dieser Zeit nicht gerade im Ausland aufgehalten, wäre sie mit von der Partie gewesen. Auch Werner Barasch, von den Mietern eingeladen, konnte nicht mehr dabei sein. Er war kurz zuvor verstorben. Seine Schwester, Dr. Else Ross, ist ihm kurz darauf gefolgt.

Nach dem Tod der Eigentümerin 2009 will das Land Berlin nun auch das 1500 Quadratmeter große Gartengrundstück für 1,55 Millionen Euro verkaufen. Zum Kauf fest entschlossen, so noch Vorkaufsrechte geklärt werden, ist die Immobilienfirma Ralf Schmitz, die dort bauen möchte. Barbara Gstaltmayr zeigt uns den Garten: Wahrscheinlich handelt es sich um den ersten, der in Grunewald angelegt wurde. Ungepflegt seit vielen Jahren, mittlerweile arg verwildert, muss er einmal eine Augenweide gewesen sein. Die Zeit hat die Konturen verwischt, erhalten sind die alten Sträucher und knorrige Apfel- und Pflaumenbäume, die demnächst wieder üppig blühen werden. »Hier haben Else und Werner gespielt«, sagt Barbara Gstaltmayr.

Als die freiberufliche Pressereferentin, Dramaturgin und Produktionsleiterin vom Verkauf des Gartens erfuhr, hat sie der Immobilienfirma am 2. Dezember vergangenen Jahres spontan einen Brief geschrieben: »Mit diesem Garten haben Sie ein besonders wertvolles Grundstück erworben, nicht im materiellen Sinn, sondern im geschichtlichen und menschlichen. Darüber möchte ich Ihnen berichten, und darum bitte ich Sie um ihre Aufmerksamkeit.« Sie schilderte also kurz die Barasch’sche Familiengeschichte und endete mit den Worten: »Nun werden Sie sich vielleicht fragen, warum ich Ihnen diese Geschichte schreibe. Mein Anliegen ist ein ganz einfaches. Ich möchte Sie bitten, von dem, was der Garten einmal war und für die Familie Barasch bedeutete, soviel wie möglich zu erhalten. Für den Bau eines neuen Hauses werden Sie das Grundstück verändern, und Sie werden Bäume fällen lassen. Leider konnte die ehemalige Besitzerin aufgrund ihrer finanziellen Situation den Garten nicht mehr pflegen lassen. Aber nur einige Bäume haben Schäden, die Mehrzahl ist gesund und kräftig … Mit dem Kauf des Gartens haben Sie ein Erbe übernommen, das aus der grauenhaften Geschichte von Verfolgung, Vertreibung und Vernichtung rührt. Ich bitte Sie herzlich, die Geschichte der Familie Barasch zu achten, zu bewahren, würdig mit diesem Besitz zu verfahren und diese Erinnerungen auch an diejenigen Familien weiterzugeben, die durch den Erwerb der Wohnungen hier in Zukunft leben werden.«

Tja, was kann eine Immobilienfirma im Deutschland nach dem großen Verbrechen darauf antworten? Sie kann sich vorstellen, an dem zu bauenden Haus eine Gedenktafel anzubringen. Auch Barbara Gstaltmayr konnte sich das vorstellen: innerer Auftrag erledigt, Gewissen beruhigt. Wirklich? Gstaltmayr sagt: »Tief in mir hat es gearbeitet. Warum nur ein paar Spuren bewahren, warum nicht den Garten retten? Nach einer schlaflosen Nacht stand fest: Ich pack’s an!« Erneute Kontaktaufnahme zur Firma Schmitz. Ja, ihr Anliegen sei verständlich. Fände sich ein zahlungskräftiger Kunde, der den Garten erhalten will, könne der ihn erwerben.

Was will Barbara Gstaltmayr? Zuerst wollte sie einen Garten der Stille. In dem man, wenn man »wach genug ist und der Wind entsprechend steht«, die Züge der Deportationen vom Gleis 17 hört. Dann kam ihr die Idee eines »Bürgergartens« - ein Förderkreis, der Bäume pflanzt; Schulen, die Patenschaften übernehmen: ein Garten, in dem Leute sich engagieren. Gstaltmayr aktiviert ihr kleines Netzwerk in Kunst und Politik. Sie schreibt Briefe an hohe und höchste Institutionen der Republik - erfährt für ihr Anliegen Wohlwollen. Mit Wohlwollen kauft man kein Grundstück. Wo den zahlungskräftigen Käufer, eine Stiftung oder einen Mäzen, finden?

Es gibt viel Erinnern in Berlin. Die Einen wollen sich erinnern, die Anderen sollen erinnert werden. Hier ist das Erinnern persönlich geworden. Mit Hilfe eines Freundes hat Barbara Gstaltmayr weitere Mitglieder der Familie Barasch in den USA finden können. Man telefoniert und hat Mail-Kontakt. Die Enkel und Urenkel von Arthur und Irene Barasch waren überrascht und hocherfreut, Nachricht aus Deutschland zu bekommen. Die 82-jährige Nichte Lili schrieb: »That you are now living in the ›garden house‹ wich is wonderful to know … and I could be a part of what ist happening in ›the garden of the Barasch family‹«.

Barbara Gstaltmayr hat nichts zu verlieren, wenn sie sich für den Garten stark macht. Sie kann nur gewinnen. Sie hat die Familie eingeladen, sie in Berlin zu besuchen. Irgendwie sollen die Baraschs in der Wissmannstraße bleiben.

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